Die Masken von San Marco
schüttelte er den Kopf und sah Zorzi traurig an. «Sie werden sich bei ihm melden», sagte er.
Seine Revolverhand fuhr nach oben, und als Zorzi be griffen hatte, war es bereits zu spät zu reagieren. Das Letzte, was Zorzi sah, war die Stichflamme, die aus dem Revolverlauf schoss. Den blauen Qualm und den beißenden Korditgeruch, der unmittelbar nach dem Schuss das Zimmer erfüllte, registrierte er nicht mehr.
Normalerweise hätte Boldù eine lautlose Tötungsmethode vorgezogen, aber es wäre keine gute Idee gewesen, sich mit Zorzi auf eine Rangelei einzulassen. Außerdem bezweifelte er, dass jemand den Schuss gehört hatte. Der Regen war stärker geworden, ein böiger Wind trieb die Tropfen gegen die Scheiben und rüttelte an den Fensterläden – kein schö nes Wetter für einen gemütlichen Spaziergang, aber ideal, um ein paar Dinge zu erledigen, bei denen er nicht beobachtet werden wollte.
Boldù sicherte die Waffe, steckte sie ein und kniete neben Zorzi nieder. Der lag mit angezogenen Beinen auf der Seite, der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, war umgestürzt.
Boldù hatte ihn direkt zwischen die Augen getroffen, und Zorzi konnte nicht mehr als einen kurzen, jähen Schmerz empfunden haben, bevor er sich aus dieser Welt verabschiedete. Seine Augen waren noch immer geöffnet, und Boldù strich kurz mit der Handfläche über seine Lider, um sie zu schließen.
Zorzi die paar Schritte über die Fondamenta degli Incurabili zu tragen und in den sandalo zu legen würde das Werk weniger Minuten sein. Dann würde er mit ihm zur Patna rudern, die Sprengladungen an den richtigen Stellen anbringen und die Zündschnüre miteinander verknüpfen. Wie praktisch, dachte er, dass sich sämtliche dafür erforderlichen Materialien bereits auf der Patna befanden: Zündschnüre in allen möglichen Varianten, pfundweise erstklassiges Sprengpulver, Satzröhren, Zündpapier, alles. Der Witz war, dass sie viel zu viel Sprengpulver hatten, sodass die fertigen Raketen lediglich das optische Sahnehäubchen bilden würden, wenn die Patna explodierte.
Da ihm aufgefallen war, dass Zorzi seine Hausschlüssel in der linken Außentasche seines Gehrocks aufbewahrte, konnte er sich lange Sucherei ersparen. Er griff ihm in die Tasche, nahm den Schlüssel an sich und steckte ihn ein.
Wo sich Zorzis Wohnung befand, wusste er. Auch dass er allein lebte und seine Aufwartung nur alle zwei Tage und immer morgens erschien. Er würde sich höchstens ein paar Minuten lang in der Wohnung aufhalten müssen. Außerdem war sie ganz in der Nähe. Er liebte es an Venedig, dass man alle Besorgungen zu Fuß erledigen konnte.
Die kurze Nachricht an Tron würde er in einem Café an der Piazza schreiben. Dort würde er auch leicht jemanden finden, der sie in den Palazzo Balbi-Valier brachte. Anschließend würde er sich von einer Gondel hierher zurück bringen lassen und den sandalo benutzen, um zur Patna zu gelangen. Er würde genug Zeit haben, um seinen Vorbereitungen den letzten Schliff zu geben und sich danach ein trockenes Plätzchen zu suchen, an dem er in aller Ruhe auf Tron warten konnte. Gewissermaßen als Empfangskomitee.
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Pling!, machte die goldene Stutzuhr auf dem Kamin im Salon der Principessa. Das machte sie alle fünfzehn Minuten. Aber die Minuten, die normalerweise hurtig vorübereilten, krochen jetzt quälend langsam voran, was daran lag, dass Zorzis Meldung inzwischen überfällig war und Tron sich fragte, ob es nicht ein Fehler gewesen war, ihm zu vertrauen.
Sie hatten sich nach dem Abendessen in den Salon der Principessa begeben, um dort ihren üblichen abendlichen Beschäftigungen nachzugehen: Die Principessa, den obligatorischen Rotstift in der Hand, studierte ihre Geschäftspapiere, Tron redigierte den Probedruck des nächsten Emporio della Poesia. Und gab es etwas Schöneres, als sich im wohlgeheizten Salon der Principessa mit dem Emporio zu befassen, wenn draußen ein kalter Herbstregen gegen die Scheiben prasselte? In eine legere Hausjacke gekleidet und eine Schale mit fruits candis in Reichweite? Nein, dachte Tron, eigentlich nicht.
Nur dass er heute seinen Gehrock anbehalten hatte und bereit war, in Kürze aufzubrechen. Und dass er sich immer häufiger dabei ertappte, wie er zu der Stutzuhr auf dem Kamin schielte. Was hatte Zorzi gesagt? Gib mir den Nach mittag und den Abend. Aber in gut zwei Stunden würde es bereits Mitternacht sein – auch wenn der Minutenzeiger jedes Mal eine Ewigkeit zu benötigen schien, um ein quarto
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