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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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sich über die Nachricht beugte, wäre er fast in Gelächter ausgebrochen. Er hatte einen komplizierten monoalphabetischen Code erwartet oder einen, für den er einen Schlüssel brauchte, den er natürlich nicht kannte. Tatsächlich aber handelte es sich um die primitive Gartenzaun-Codierung, die jeder Schuljunge entziffern konnte. Was hier codiert worden war, war allerdings weniger spaßhaft. Am Donnerstag also. Wo und wann, blieb unklar. Aber eines stand fest: Der Attentäter würde die Uniform eines Leutnants der Kaiserjäger tragen und ein fusil à vent benutzen. Er arbeitete auch nicht für den piemontesischen Geheimdienst, sondern für jemanden, dem das streng geheim gehaltene Protokoll des kaiserlichen Besuchs bereits jetzt bekannt war. Für jemanden aus der unmittelbaren Entourage des Kaisers.

    Zorzi stand auf, und plötzlich war ihm so kalt, dass er anfing zu zittern. Er zwang sich zur Ruhe, schlug das Gewehr wieder in das Leinentuch ein und verstaute es zusammen mit dem Leinenbeutel in dem Ofenrohr. Dann verschloss er die Öffnungen mit den Zeitungen und brachte das Rohr wieder an seiner ursprünglichen Stelle an. Eines der Projektile und das Stück Papier mit der codierten Nachricht hatte er an sich genommen – er wollte die Wohnung nicht mit leeren Händen verlassen.
    Wenn er sich beeilte, konnte er in einer Viertelstunde im Palazzo Balbi-Valier sein. Eine halbe Stunde später würden Tron und ein Haufen bewaffneter Sergeanten Boldù in die Falle laufen lassen. Sie würden ihn verhaften – zusammen mit allen Beweisen, die man sich nur wünschen konnte. Es wäre der größte Fisch, den die Questura je gefangen hatte, und es würde Toggenburg und Lamasch das Genick brechen.
    Das war ein gutes, ein erhebendes Gefühl. Und vermutlich der Grund dafür, dass Zorzis Verstand an dem, was seine Augen sahen, keinen Anstoß nahm: Die Klinke der Verbindungstür zur Küche senkte sich langsam nach unten.
    Dann öffnete sich die Tür mit einer gewissen häuslichen Gemütlichkeit. Dazu passte, dass Boldù ihn nicht finster anstarrte, sondern ihn höflich anlächelte. Nur dass er einen Revolver in der Hand hielt und sein Lächeln nicht seine Augen erreichte. Die waren kalt wie Eis.
    «Ich glaube», sagte Boldù, «dass Sie mir einiges erklären müssen.»

    Boldù ließ die Hand mit dem Revolver langsam herabsinken, aber Zorzi sah, dass der Hahn der Waffe noch immer gespannt war. Die Entfernung zwischen ihnen betrug min destens vier Schritte, und Zorzi wusste, dass er keine Chance hatte. Boldù hatte zwei Morde begangen und würde nicht zögern, einen dritten zu begehen. Das Einzige, dachte Zorzi, was ihn jetzt noch retten konnte, war eine gute Geschichte. Eine glaubwürdige Geschichte.
    «Tron weiß Bescheid», sagte Zorzi, ohne nachzudenken.
    Er war erstaunt, wie fest sich seine Stimme anhörte.
    Einen Moment lang schien Boldù irritiert. « Was weiß er?»
    «Dass Sie nicht nach Venedig gekommen sind, um zusammen mit uns ein patriotisches Feuerwerk über der Piazza zu entzünden.»
    Boldù lächelte. «Er hat keine Ahnung, dass es mich gibt.»
    «Sie täuschen sich. Tron weiß, was wir vorhaben und  weshalb Sie nach Venedig gekommen sind.»
    «Und weshalb bin ich nach Venedig gekommen?»
    «Um unseren Anschlag zu sabotieren und am Donnerstag den Kaiser zu töten.»
    Das Lächeln auf Boldùs Gesicht war plötzlich verschwunden. Sein Kinn fuhr ruckartig nach oben. Er musterte Zorzi durchdringend. «Woher weiß der Commissario das?»
    «Jemand hat geredet.»
    «Wer?»
    «Ein Offizier», sagte Zorzi. «Der Mann hielt es für unklug, sich an das Militär zu wenden.»
    «Und warum verhaftet mich der Commissario nicht?»
    «Weil er einen Offizier der kaiserlichen Armee nicht verhaften kann», sagte Zorzi. «Er möchte, dass ich Ihnen einen Vorschlag mache.»
    «Ich höre.»
    «Tron will, dass Sie aus der Stadt verschwinden», sagte Zorzi mit Nachdruck. Er hatte jetzt das Gefühl, dass sich das Gespräch positiv entwickelte. «Sie verlassen Venedig morgen mit dem ersten Zug, der nach Verona fährt.»
    Boldùs Gesicht war ausdruckslos. «Und wenn ich mich  weigere? Und Sie töte?»
    «Das wäre ein Fehler», sagte Zorzi. «Der Commissario hält sich im Palazzo Balbi-Valier auf. Wir haben verabredet, dass ich mich noch im Laufe dieser Nacht bei ihm melde.
    Wenn er nichts von mir hört, wird sich der Polizeipräsident morgen direkt an den Adjutanten des Kaisers wenden.»
    Boldù machte einen Schritt auf Zorzi zu. Dann

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