Die Maya-Midgard-Mission
Verstehen und ihrem Zugriff entzogen. Zum zweiten Mal war sie den Dieben durch einen langen dunklen Gang ins Licht gefolgt, und zum zweiten Mal wachte sie nach einer friedvollen Bewusstlosigkeit in einer fremden Umgebung auf.
Im MorgenrotLand Kabyum Kins war sie gestrandet; im Aurora der alten Maya. Ihr erster Zeitsprung hatte sie an die Seite Ragnars, des Wikingers, geführt. Ragnar, der Kühne: dieser Abenteurer, Krieger, Seefahrer, der Mann mit der Geistesha ltung eines Philosophen, der Physis eines Preisboxers und dem Herzen Domnall O'Domhnaills. Sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt, in gewisser Weise zum zweiten Mal. Sie hatte die intensivsten Monate all ihrer Leben an seiner Seite verbracht. Mit ihm und den Maya-Flüchtlingen Kabyum Kins hatte sie gelebt, gelitten und gekämpft, mit Cucul Patz Kin geweint und mit MondAuge um Verstehen gerungen. Es war ihr nicht gelungen, den Tod des geliebten Hünen zu verhindern. Im Kampf mit den Häschern des PriesterKönigs SchlangenVogel hatte Ragnar sich für sie geopfert. Er wusste auch ohne Darias Geschichten aus anderen Epochen, dass er eine unsterbliche Seele besaß, und dass Liebe nicht teilbar war. Nur sie selbst war gescheitert: in ihrer Liebe und in der Bewältigung ihrer Aufgabe. Aber sie lebte noch, sie konnte weiter kämpfen. Und sie hatte ihrem Geliebten aus zwei Leben ein Denkmal gebaut, das, wie sie nun wusste, die Jahrhunderte überdauern würde und dass sie eines fernen, vergangenen Tages selbst aus dem Dunkel des Vergessens ausgegraben gehabt haben werden würde. Sie hoffte, dass sie mit den Büchern der Sechsten Sonne, mit den Denkmälern wider das Vergessen, auch ihre Liebe wieder finden könne. An irgendeinem Ort, zu irgendeiner Zeit...
Weshalb war sie in einer Wanne Kamelmilch gelandet?
»Zeit ist Illusion«, bemerkte Stimmchen altklug wie stets. »Und alles Äußere dient lediglich der Erfahrung. Das müsstest du als Zeitsammlerin doch wissen…«
Nach Darias Erinnerungs-Zeitrechnung, wie sie ihr persönliches Erl eben zu nennen pflegte, lebte sie nun bereits ihr drittes Leben. Dennoch gab es offenbar einen Unterschied zu all den anderen Menschen, deren Inkarnationen sie innerhalb der verschiedenen Zeitalter und Lebensspannen begegnet war. Sie konnte sich erinnern, sie hatte ihre Identität bewahrt, sie war dieselbe Daria, ob in der ersten oder in jeder folgenden Existenz. Daria Delfonte lebte im Bewusstseinszustand von Daria Delfonte. Und sie kannte jedes vergangene Abenteuer im Detail. Nie würde sie die sintflutartigen Regenfälle am Hügelgrab bei Toxtlipan vergessen, die Regenpillen über Yukatan, die nach Schwefel schmeckten, oder die sanften Küsse ihres geliebten Nordmanns, die nach Abenteuer, Meer und Mehr schmeckten; die Zweifel eines irischen Priesters an seiner Liebe zu der Frau, die er – verschleiert vom Nebel der Zeiten – vielleicht schon seit Jahrhunderten liebte; die lebhaften Diskussionen mit Kautsky-Kabyum; den Wal auf der Spitze des Heiligen Berges Cornucopia, den Geruch seines verwesenden Fleisches und den Schmerz in den Augen, als die ersten eindringenden Sonnenstrahlen die Bernstein-Pyramide im Innern des Tempels von Tonatu zum Schmelzen gebracht hatten. Aber auch zahllose kleine Momente hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Sie erinnerte sich an den Schalk und die Altersweisheit einer Marilyn Monroe; an den Geschmack von winzigem Zuckermais, der nach den Maßstäben ihrer Herkunft und ihres Glaubenssystems viele Hunderte von Jahren alt war; an den ledrigen Geruch der Leporellos, als sie nach Hunderten Jahren zum ersten Mal geöffnet wurden; an die Texte Federmanns und die Kommentare Mays, die sich zwischen ihren zittrigen Fingern brüchig wie gebackener Sand anfühlten; an Cucul Patz Kin/Virginias Liebesbereitschaft und Hingabe, die sie nur bewundern konnte. Sie erinnerte sich an all diese Erlebnisse; sie fühlte den Schmerz, die Trauer, die Wut, die Angst, den Tod. Sie sehnte sich nach Ragnars Berührung. Sie schmeckte den süßen Triumph, als sie die Bücher im Tempel fand, und sie witterte den bitteren Geruch ohnmächtiger Verzweiflung, als Ragnar in ihren Armen verblutete. Sie erinnerte sich an alles und wusste dennoch nicht, ob es Wirklichkeit oder Traum, Wachsein oder Wahnsinn war, der sie umfing. Sie wollte ihren Tränen glauben, die heiß an ihren Wangen hinunter rannen und in die Kamelmilch tropften. Cucul Patz Kin, die PriesterSeherin vom MorgenrotLand hatte ihr erklärt, dass solche Tränen aus
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