Die Maya-Midgard-Mission
Zunge zerging die Substanz ähnlich wie das Fruchtfleisch einer Melone. Das Mark war warm und schmeckte nach Schokolade. Caldera murmelte Worte, die Daria bekannt vorkamen. Dann erkannte sie die Sprache. Mayathan, genauer Chilanthan, die Sprache der Liegenden, der Propheten der Mayafürstentümer.
" Ma zazil cab, ti hun minam kin, ti hun minam akab, ti hun minam u..."
' Die Erde war nicht hell, es gab noch keine Sonne, es gab noch keine Nacht, es gab noch keinen Mond...' übersetzte Daria stumm. Sie erkannte Calderas Sermon. Es waren Worte aus der Schöpfungsgeschichte des Chilam Balam, der das Amt des zweiten Priesters unter SchlangenVogel, dem PriesterKönig von Toxtlipan bekleidet hatte. Es handelte sich um ein Kapitel aus den Büchern der Sechsten Sonne.
" ...y ahal cab", endete Majas Beschwörung.
' ...als die Erde erwachte.'
Caldera tropfte die Reste der roten Flüssigkeit in die Glut, wo sie mit Fauchen und Zischen zu kleinen, schwarzen Pillen verklumpten. Ein zarter Rauchschleier stieg über dem Kohlebecken auf und verteilte einen weihrauchartigen Duft.
Daria fühlte sich auf einmal sehr schwer. Zusammen mit Caldera ließ sie sich zu Boden sinken. Die Augenlider fielen auf die Wangen wie nasse Vorhänge. Ihr Mund war trocken, ihr Herz raste und die Gliederschwere lastete auf ihr, als trüge sie die gesamte Echnaton-Pyramide. Mit aller Willenskraft öffnete sie die Augen, blinzelte, öffnete sie wieder und versuchte zu glauben, zu verstehen und ihren Sinnen zu vertrauen.
Die Obeliskenhalle hatte sich in einen Palast mit Wasserwänden ve rwandelt. Die gläsernen Wände waren mit durchscheinenden, zartpastellfarbenen, violetten, aquamarinblauen, grünen und gelben Tülltüchern verhüllt, die sanft in den aus den messinggefassten Schlitzen am marmornen Boden aufsteigenden Schwaden von Warmluft tanzten, als folgten sie einer unhörbaren Melodie. Der ätherische Raum war ein riesiges, umgedrehtes Aquarium – außen Wasser und Fische, Atmosphäre im Innern. Durch die Tüllvorhänge konnte Daria einen Schwarm Zitronenfische, Korallen und eine Meeresschildkröte erkennen, die immer wieder gegen die unsichtbare Scheibe anschwamm. Die Wände schienen jedoch nicht statisch zu sein, sondern pulsierten mit den Sonnenstrahlen im türkisen Wasser, als befänden sie sich in einem riesengroßen unterseeischen Luftballon.
" Na, traumhaft!", sagte Daria, aber ihre zentnerschwere Zunge konnte der Geschwindigkeit der Buchstaben nicht folgen; und deshalb klang ihr Kommentar eher wie: "Nauum!" Sie wollte Calderas Worte beherzigen und versuchte, ihre Sinne auf ihren physischen Zustand und ihre Umgebung zu konzentrieren. Aber die Bilderflut und die innere Schwere überwältigten sie, dass sie es kaum noch schaffte, klar zu denken.
" Oh nein!", sagte Maja, "deine Gedanken sind vollkommen klar. Deine Sinne sind in einem Übergang, deshalb kannst du mich auch nicht als die Person Atzlan erkennen."
»Der Bursche ist das reinste Chamäleon« , zickte Stimmchen. »Am Ende entpuppt er sich noch als Echnaton persönlich oder irgend so ein atlantischer Sonnenkönig, Gott und Oberguru, verdammt vertrackt...«
Daria spürte Calderas Lachen mehr, als sie es hörte. Und obwohl sie sich selbst verloren zu haben schien und ihn nicht körperlich sehen konnte, hatte sie doch ein sehr genaues Bild seiner Anwesenheit, eine lebhafte Vorstellung seines Seins und auch seiner Empfindungen. Ca ldera mochte Caupolican und Maja gewesen sein, jetzt war er Atzlan und bester Laune. Vielleicht hatte er ein wenig von seiner Kunst des Gedankenlesens auf sie übertragen. Trotz ihres inneren Widerstandes blieb sie in diesem sonderbaren Schwebezustand gefangen. Irgendwo zwischen Armageddon und Nirwana. Stimmchen hatte Recht, ganz schön kompliziert, das Leben.
" Schau dich um, Gnädigste! Das Leben ist nicht kompliziert", meinte Atzlan. "Es ist einfach. Und einfach sind auch seine Gesetze. Nicht simpel, aber schlicht. Ich bin kein König und kein Gott. Zum Guru würde ich alleine durch das Verhalten anderer. Ich bin Atzlan, ein einfacher Schreiber, Energieverwalter und Agent. Ein Mensch, der ein Ideal zu leben versucht. So einfach ist das. Schau dich nur um!
Die Sonne ist das Zentrum jeder Welt, auch der unseren. Sie spendet Leben, sie setzt sämtliche Kreisläufe in Gang, um das Leben zu erha lten und zu vermehren. Ihr Licht – durchscheinend und elfenhaft, wie es ist – lässt scheinbar aus dem Nichts Lebendiges wachsen. Und nun schau in dich;
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