Die Maya-Midgard-Mission
Zuflucht suchen, genau wie man mit ihnen zusammen jedem Seelensturm trotzen kann, solche Freunde gab es für Kautsky nicht. Die Menschen seiner Kindheit waren alle ermordet worden. Und später... Nun, er wusste genau, dass seine Einsamkeit zum größten Teil seiner eigenen Verantwortung zuzuschreiben war. Die Freunde seines zweiten Lebens waren Barbaras Freunde gewesen. Durch sie waren sie in ihr gemeinsames Leben getreten, bald nach ihr hatte er auch sie verloren. Freundschaften wollen gepflegt sein. Er hatte keine Energie für andere Menschen übriggehabt. Mitleid war ein sehr kurzlebiges Motiv für die Art von Anstrengung, die es erfordert, einen Trauernden aus seiner Lethargie zu reißen. Innere Zerrissenheit hatte er in eine äußere Unrast gekleidet. Und mit jeder neuen Flucht war ein weiteres Stückchen Liebe oder Zuneigung zu anderen Menschen in ihm abgestorben. Kautsky war ständig weniger geworden. Geschrumpft. Keine Basis für dauerhafte, tiefschürfende Freundschaften. Dann hatte das Schicksal gleich zweimal zugeschlagen. Zuerst hatte er Dr. Delfonte kennen gelernt, dann war ihr Mann gestorben. Herbert Brubaker. Komischer Name. Komischer Mann. Verdammt unscheinbar. Wie sein Name. Komisch, dass er eine solche Frau an seiner Seite hatte. Und komisch, dass er sie betrogen hatte. Bestimmt ein Grund dafür, dass sie nach seinem Tod ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte. Na ja, man schaute nicht rein in die Menschen. Vielleicht war Brubaker auch ein Schrumpfkopf. Ein seelischer. Wer weiß?
Kautsky wollte nicht länger schrumpfen; er wollte wachsen; ein letztes Mal versuchen, der drohenden Erstarrung zu en tfliehen. Er wusste nur nicht, ob er sich trauen würde, aus der freundschaftlichen aber rein geschäftlichen Beziehung zu Daria Delfonte ein zartes Aufeinanderzugehen zu machen. Er wusste nicht, ob sie seine Gefühle erwidern würde. Und er wusste nicht, wie...
Sein erster Schritt war bereits gesche itert. Bei der alten Schrulle, der leider Gottes diese Inseln zu gehören schienen, war er grandios abgeblitzt. Er hatte alle erdenklichen Wege beschritten, ihr sein Kaufangebot zu unterbreiten. Doch zuerst gab es keine Verbindung nach Cinnamon, wo sie angeblich in einer viktorianischen Villa residierte. Kein Telefon, kein Funk, kein Internet! Nichts! Der persönliche Bote war unverrichteter Dinge nach Santa Aurora zurückgekehrt. Und auch der Hotelmanager konnte ihm nur von der ausgeprägten Sturheit der alten Dame berichten. Sie hatte die Inseln seit ihrem Erscheinen im Jahre 1962 nicht mehr verlassen und ließ Touristen nur widerwillig zu. Die Quote regelte sie zum Erstaunen Kautskys aber nicht über Exklusivität, also den Preis, den sie nach seinem Ermessen irgendwo im sechsstelligen Bereich hätte ansiedeln können, sondern über äußerste Verschwiegenheit. Es gab keine Werbeprospekte, keine Reiseagentur, die Aurora im Programm hätte, keine Videos der Naturschönheiten. Nichts! Seine Leute in New York hatten immense Probleme gehabt, das Dossier für Daria Delfonte zusammenzustellen. Außerdem war das einzige Hotel auf Aurora eher eine Pension und erfüllte mit seinem rustikalen Charme keinen internationalen Anspruch. Im Augenblick beherbergte die Villa Aurora ein gutes Dutzend Gäste, von denen einige Rucksacktouristen aus Europa waren, die von Insel zu Insel hüpften und nur durch einen Motorschaden der Fähre, die einmal im Monat aus Barbados kam, hier gelandet waren.
Dann gab es da noch ein paar ziemlich verschrobene Stammgäste: einen irischen Pa ter, der Schmetterlinge jagte – mit seiner Leica; ein französisches Fabrikantenehepaar, das ironische Spiegelfechtereien zur Kunstform erhoben hatte, aber spätestens nach dem dritten Daiquiri als debile Platitüdenkönige delirierten; sowie einen euphorischen Schriftsteller, der den von Aurora inspirierten endgültigen Endzeitroman verkündete.
Kautsky hatte sich am Vorabend länger mit dem Burschen unterha lten. Er wollte mehr über die Inseln erfahren, vielleicht eine erste Fährte der Bücher der Sechsten Sonne aufnehmen. Ein Schriftsteller schien ihm da ein geeigneter Gesprächspartner zu sein. Doch er musste bald einsehen, dass dieser Schreiberling sich mit nichts lieber befasste als mit sich selbst und der eigenen Beweihräucherung und zwar ausschließlich. Im Gegenzug hatte Kautsky sich an der gequälten Anteilnahme in den Augen des deutschen Narzissten geweidet, als er ihm, unter Vortäuschung großer Gemeinsamkeiten, von seinem Werdegang
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