Die Mayfair-Hexen
links. Der Wagen tauchte in einen Wald aus hohen, dunklen Bäumen ein, Buchen und Eichen, wie es schien, und sogar ein paar hellblühende Obstbäume, die man nicht deutlich erkennen konnte. Die Blüten schimmerten hier und da rosig im Scheinwerferlicht.
Mit der zweiten Abbiegung gelangten sie auf eine unbefestigte Straße. Der Wald wurde dichter. Vielleicht waren dies die Überreste eines uralten Waldes, eines jener großartigen Druidenwälder, die einst ganz England und Schottland, vielleicht sogar das ganze Europa bedeckt hatten, Wälder, die Julius Cäsar mit skurpelloser Überzeugung hatte roden lassen, damit die Götter seiner Feinde entweder fliehen oder sterben mußten.
Der Mond schien ziemlich hell. Michael sah eine schmale Brücke, dann kam wieder eine Biegung, und sie fuhren am Ufer eines kleinen, friedlichen Sees entlang. Auf der anderen Seite des Wassers stand ein Turm, vielleicht eine normannische Festung. Der Anblick war so romantisch, daß die Poeten des vergangenen Jahrhunderts zweifellos vernarrt in diesen Ort gewesen sein mußten. Vielleicht hatten sie den Turm sogar selbst gebaut, und es war eine dieser bezaubernden Fälschungen, die überall aus dem Boden geschossen waren, als die neuerwachte Liebe zum Schauerlichen den Architekturstil auf der ganzen Welt verwandelt hatte.
Aber als sie um den See herum auf den Turm zufuhren und näherkamen, konnte Michael ihn deutlicher sehen. Er erkannte, daß es ein normannischer Rundturm war, ziemlich groß, vielleicht dreistöckig. Die Fenster waren erleuchtet, der untere Teil des Gebäudes war von Bäumen verhüllt.
Ja, das war es – ein normannischer Turm. Als Student hatte er viele davon gesehen, als er auf touristischen Pfaden durch ganz England gereist war. Vielleicht hatte er in irgendwelchen Sommerferien, an die er sich nicht mehr erinnern konnte, auch diesen hier gesehen.
Aber es kam ihm nicht so vor. Der See, der riesige Baum auf der linken Seite, das alles war zu perfekt. Er konnte jetzt auch die Fundamente eines größeren Gebäudes erkennen, die sich in zerfallenden Haufen und Bruchstücken davon schlängelten, zweifellos abgetragen von Wind und Regen und durch wildes Efeugestrüpp weiter verhüllt.
Sie fuhren durch einen dichten Bestand von jungen Eichen und verloren das Gebäude ganz aus den Augen. Als sie aus dem Wäldchen hervorkamen, waren sie überraschend nah herangekommen, und Michael sah zwei Autos, die vor dem Turm parkten. Zwei kleine elektrische Lichter flankierten eine sehr große Tür.
Alles sehr zivilisiert, so schien es. Bewohnbar. Aber wie wundervoll war der Turm erhalten, ganz unbeeinträchtigt durch irgendwelche modernen Hinzufügungen. Efeu kroch über die abgerundeten, vermörtelten Steine und über den schlichten Türbogen hinauf.
Niemand sagte etwas.
Der Fahrer hielt auf einem kleinen, kiesbedeckten Platz an.
Michael stieg sofort aus und sah sich um. Ein üppiger, verwilderter englischer Garten reichte zum See und bis zum Wald. Blumenbeete fingen eben an zu blühen. Er konnte die verschwommenen Umrisse erkennen; die Blüten hatten sich in der Dunkelheit geschlossen, aber wer wußte, welche Pracht sich hier überall entfalten würde, wenn die Sonne aufging?
Würden sie noch hier sein, wenn die Sonne aufging?
Eine mächtige Lärche stand zwischen ihnen und dem Turm, sicher einer der ältesten Bäume, die Michael je gesehen hatte.
Er ging auf den ehrwürdigen Stamm zu und war sich bewußt, daß er sich dabei von seiner Frau entfernte. Aber er konnte nicht anders.
Und als er schließlich unter den weit ausgebreiteten Ästen des Baumes stand, blickte er an der Fassade des Turmes hinauf und sah im dritten Fenster eine einsame Gestalt. Ein kleiner Kopf, schmale Schultern. Eine Frau, das Haar offen oder mit einem Schleier bedeckt, das konnte er nicht genau erkennen.
Einen Augenblick lang überwältigte ihn die ganze Szene – die traumhaft weißen Wolken, der hohe, helle Mond, der Turm selbst in all seiner rauhen Pracht.
Er hörte, wie die anderen mit knirschenden Schritten näher kamen, aber er ging nicht beiseite und rührte sich nicht. Er wollte nur hier stehen bleiben und dies alles sehen: den freundlichen See zur Rechten, dessen Wasser man jetzt von zarten Obstbäumen mit blassen, zitternden Blüten umrahmt sehen konnte – japanische Pflaumenbäume höchstwahrscheinlich, wie sie im Frühling überall in Berkeley, Kalifornien, blühten und in kleinen Straßen manchmal dem Licht selbst einen rosaroten Schimmer
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