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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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ganz prima.

 
16

    Sie waren seit über einer Stunde unterwegs, und es war fast dunkel. Am Himmel gerannen silbrige Wolken, und Schläfrigkeit legte sich über das weite Land mit seinen welligen Hügeln und grünen Feldern, das zu einem säuberlichen Muster zerteilt war, als wäre die Erde von einem großen Flickenteppich bedeckt.
    In einem kleinen Dorf, das aus einer Straße mit ein paar schwarzweißen Fachwerkhäusern und einem überwucherten Friedhof bestand, legten sie einen Zwischenstop ein. Der Pub sah mehr als einladend aus. Es gab das sprichwörtliche Dartboard; zwei Männer spielten Darts, und das Bier duftete wundervoll. Aber dies ist kaum der rechte Augenblick für ein Bier, dachte Michael.
    Er trat vor die Tür, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete mit stiller Faszination die formelle Behutsamkeit, mit der Ash seinen Gefangenen in den Pub und auf die unvermeidliche Toilette führte.
    Auf der anderen Straßenseite stand Yuri in einer Telefonzelle und redete hastig; anscheinend hatte er Verbindung mit dem Mutterhaus aufgenommen. Rowan stand mit verschränkten Armen neben ihm und betrachtete den Himmel. Yuri war wieder in Aufregung geraten; er ballte die rechte Hand zur Faust, während er mit der linken den Telefonhörer hielt, und nickte immer wieder. Offensichtlich hörte Rowan ihm zu.
    Michael lehnte sich gegen die Fachwerkwand und zog an seiner Zigarette. Es war immer wieder erstaunlich, wie ermüdend eine einfache Autofahrt war. Auch bei dieser Reise war es trotz der quälenden Spannung letzten Endes nichts anderes, und nachdem nun die Dunkelheit die hübsche Landschaft verhüllt hatte, würde er vermutlich noch schläfriger werden, was immer da noch bevorstehen mochte.
    Als Ash und sein Gefangener aus dem Pub kamen, machte Gordon ein verdrossenes, verzweifeltes Gesicht. Offenbar war es ihm nicht gelungen, Hilfe zu finden, oder er hatte nicht gewagt, es zu versuchen.
    Yuri hängte den Hörer ein. Jetzt war es an ihm, im Pub zu verschwinden; er war immer noch unruhig, ja, panisch. Rowan hatte ihn während der Fahrt die ganze Zeit aufmerksam im Auge behalten, wenn sie nicht gerade Ash gemustert hatte.
    Michael beobachtete, wie Ash Gordon jetzt wieder auf den Rücksitz bugsierte; er versuchte gar nicht erst zu verbergen, daß er ihn anstarrte, denn das wäre unnötig lästig gewesen. Das Eigentümliche an diesem großen Mann war die Tatsache, daß er in keiner Weise abscheulich wirkte, wie Yuri behauptet hatte. Die Schönheit war vorhanden, und zwar in einem ziemlich spektakulären Maß, aber die Abscheulichkeit? Michael konnte sie nicht entdecken. Er sah nur eine anmutige Gestalt und lockere, effiziente Bewegungen, die Wachheit und Kraft verrieten. Die Reflexe des Mannes waren erstaunlich. Das hatte er bewiesen, als Stuart Gordon noch einmal nach der Türverriegelung gegriffen hatte, als der Wagen vor einer halben Stunde an einer Kreuzung angehalten hatte.
    Das weiche schwarze Haar des Mannes erinnerte ihn allzu sehr an Lasher: zu seidig, zu fein, zu voluminös – er wußte es nicht. Die weißen Strähnen verliehen der ganzen Gestalt eine Art von besonderem Glanz. Das Gesicht war viel zu großknochig, um in irgendeinem konventionellen Sinne weiblich zu erscheinen, aber es wirkte zart, und die Länge der Nase schien durch die Tatsache ausgeglichen, daß die Augen so groß waren und so weit auseinander lagen. Seine Haut war nicht babyzart, sondern die eines Erwachsenen. Aber der eigentliche Zauber des Mannes hatte etwas mit seinen Augen und seiner Stimme zu tun. Seine Stimme könnte einen zu allem möglichen überreden, dachte Michael, und auch die Augen waren von eindringlicher Überzeugungskraft.
    Beides war von beinahe kindlicher Schlichtheit, ohne indessen einfältig zu erscheinen. Die Wirkung? Der Mann kam einem vor wie ein engelhaftes Wesen, unendlich weise und geduldig und doch ohne Frage entschlossen, Stuart Gordon umzubringen, wie er es gesagt hatte.
    Natürlich gab Michael sich, was das Alter dieses Wesens anging, keinen Spekulationen hin. Es fiel ziemlich schwer, Ash nicht für einen Menschen zu halten, der nur anders aussah, irgendwie unerklärlich merkwürdig. Aber Michael wußte, daß er kein Mensch war. Er erkannte es an hundert kleinen Details – an der Größe seiner Fingerknöchel, an der wunderlichen Art, wie er hin und wieder die Augen weitete, so daß er einen ehrfurchtsvollen Ausdruck bekam, und vor allem vielleicht an der absoluten Vollkommenheit von Mund und Zähnen.

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