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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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dir deine Lügen für Gott«, sagte Elvera. »Die ganze Nacht hindurch haben wir das Material gesichtet. Wir haben mit eurer weißhaarigen Göttin gesprochen. Befreie deine Seele von der Last der Wahrheit, wenn du willst, aber behellige uns nicht mit deinen Lügen.«
    Die Gestalten schlössen sich dichter um sie. Man schob sie immer näher zu dieser Kammer, dieser Zelle, diesem Verlies; Marklin wußte nicht, was hinter der Tür lag.
    »Halt!« schrie er plötzlich. »In Gottes Namen! Halt! Es gibt Dinge, die Sie über Tessa nicht wissen, Dinge, die Sie einfach nicht verstehen können.«
    »Hör auf, ihnen gefällig zu sein, du Idiot!« fauchte Tommy. »Glaubst du, mein Vater wird keine Fragen stellen? Ich bin kein gottverdammter Waisenknabe. Ich habe eine große Familie. Glaubst du etwa -«
    Ein starker Arm packte Marklin um den Leib, ein zweiter umschlang seinen Hals. Die Türflügel wurden aufgezogen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Tommy sich mit verkrümmten Knien sträubte, wie er nach den Männern hinter sich trat.
    Ein eisiger Luftstrom wehte durch die offene Tür. Schwarze Finsternis. Ich halte es nicht aus, im Dunkeln eingesperrt zu sein! Ich halte es nicht aus!
    Und jetzt endlich schrie er. Er konnte es nicht mehr zurückhalten. Er schrie, und sein schrecklicher Schrei begann, als man ihn vorwärts stieß, bevor er über die Schwelle kippte, bevor er merkte, daß er fiel, tief und immer tiefer in die Dunkelheit, ins Nichts, und daß Tommy mit ihm fiel, sie verfluchte, ihnen drohte – so schien es jedenfalls. Wissen konnte er es nicht mehr. Zu laut hallte sein Schrei von den Steinwänden wider.
    Dann schlug er auf. Um ihn herum und in ihm war es schwarz. Schmerzen in allen Gliedern ließen ihn erwachen. Er lag auf etwas Hartem, Scharfkantigem. Es schnitt ihn. Du lieber Gott! Als er sich hochstemmte, grub seine Hand sich in bröckelnde, zerbrechende Dinge, die einen dumpfen Aschegeruch verbreiteten.
    Er blinzelte in den einzelnen Lichtstrahl, der auf sie herabfiel, und als er hochschaute, erkannte er mit Entsetzen, daß er durch die Tür kam, durch die sie herabgefallen waren; er schien über Köpfe und Schultern der Silhouetten hinweg, die zu ihnen herunterspähten.
    »Nein, das dürft ihr nicht!« schrie er. Hastig kroch er im Dunkeln vorwärts und kam dann, ohne sich an irgendeinem Anhaltspunkt zu orientieren, auf die Beine.
    Er konnte ihre dunklen Gesichter nicht sehen, konnte nicht einmal die Form der Köpfe erkennen. Er war tief gefallen, an die zehn Meter womöglich – er wußte es nicht.
    »Halt! Ihr könnt uns nicht hier lassen, ihr könnt uns hier nicht einsperren!« brüllte er und hob beschwörend die Hände zu ihnen hinauf. Aber die Gestalten wichen aus der hellen Öffnung zurück, und zu seinem Entsetzen hörte er ein vertrautes Geräusch. Türangeln knarrten, und das Licht erstarb, als die Türflügel sich schlössen.
    »Tommy, Tommy, wo bist du?« rief er verzweifelt. Das Echo machte ihm angst. Es war mit ihm eingesperrt. Es konnte nirgends hin außer zu ihm, in seine Ohren. Er streckte die Hände aus und tastete über den Boden, berührte die spröden, zerbrochenen, bröckelnden Gegenstände und fühlte plötzlich etwas Weiches, Warmes!
    »Tommy!« rief er erleichtert. Er ertastete Tommys Lippen, seine Nase, seine Augen. »Tommy!«
    Und dann, binnen eines Sekundenbruchteils, der vielleicht länger dauerte als sein ganzes Leben, verstand er alles. Tommy war tot. Er war bei dem Sturz gestorben. Und es war ihnen gleichgültig gewesen, daß das passieren konnte. Und sie würden nicht zurückkommen, um ihn zu holen. Nie mehr. Wäre das Gesetz mit all seinen Annehmlichkeiten und seinen Sanktionen für sie anwendbar gewesen, dann hätten sie ihn und Tommy nie aus solcher Höhe hinuntergestürzt. Und jetzt war Tommy tot. Marklin war allein hier unten im Dunkeln neben seinem toten Freund und klammerte sich an ihn. Und diese anderen Gegenstände, die Dinge, um die seine Finger sich krümmten, waren Knochen.
    »Nein, das kannst du nicht! Du kannst so etwas nicht ertragen!« Wieder schwoll seine Stimme zu einem Schrei. »Laßt mich hier raus! Laßt mich raus!« Das Echo kam zurück, als wären seine Schreie Luftschlangen, die hinaufwehten und dann wieder herabgeflattert kamen. »Laßt mich raus!« Und seine Schreie waren keine Worte mehr. Sie wurden leiser, gequälter, und ihr schrecklicher Klang spendete ihm seltsamen Trost. Er wußte, daß es der letzte, der einzige Trost war, den er je bekommen

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