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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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er es jemals in seiner Kindheit gewesen war. Vor lauter Panik, vor Entsetzen zu schreien – er wußte nicht, was es war.
    Tommy zwickte ihn in den Arm und streckte den Zeigefinger aus.
    Die Flügeltür zum Speisesaal hatte sich geöffnet. Aha, das also war der Grund für die plötzliche Stille. Du lieber Gott, hatten sie Aarons Überreste nach Hause geholt?
    Die Kerzen, die schwarzen Drapagen – im Speisesaal sah es genauso aus: noch eine düstere Höhle. Er war entschlossen, da nicht hineinzugehen, aber bevor er sich versah, schob die Menge ihn langsam und feierlich auf die offene Tür zu. Er und Tommy wurden beinahe getragen.
    Will nichts mehr sehen, will hier weg…
    Das Drängen ließ nach, als sie durch die Tür gekommen waren. Männer und Frauen stellten sich um den langen Tisch. Wirklich, da lag jemand auf dem Tisch! O Gott, nicht Aaron! Ich kann Aaron nicht ansehen! Und sie wissen, daß du es nicht kannst, nicht wahr? Sie warten nur darauf, daß du in Panik gerätst und daß Aarons Wunden wieder anfangen zu bluten!
    Grauenhaft. Und dumm. Er klammerte sich an Tommys Arm und hörte wiederum Tommys Ermahnung. »Sei still!«
    Endlich standen sie an der Kante des großen alten Tisches. Da lag ein Mann in einer staubigen Wolljacke, mit Lehm an den Schuhen. Das war kein ordentlich aufgebahrter Leichnam.
    »Das ist doch lächerlich«, sagte Tommy leise.
    »Was für eine Art Beerdigung ist denn das?« hörte Marklin sich laut fragen.
    Langsam beugte er sich vor, bis er das tote Gesicht sehen konnte, das von ihm abgewandt war. Stuart. Stuart Gordon tot auf diesem Tisch – Stuarts übermäßig schmales Gesicht mit der Hakennase und leblosen blauen Augen. Du lieber Gott, sie hatten ihm nicht mal die Augen geschlossen! Waren die denn alle wahnsinnig?
    Unbeholfen wich er zurück, stieß gegen Tommy, spürte seinen Absatz auf Tommys Schuh; Tommy zog hastig den Fuß zurück. Er war unfähig, noch zu denken. Das Grauen hatte ihn ganz und gar erfaßt. Stuart ist tot, Stuart ist tot, Stuart ist tot.
    Tommy starrte die Leiche an. Wußte er, daß es Stuart war?
    »Was hat das zu bedeuten?« fragte Tommy. Seine Stimme war leise und zornig. »Was ist mit Stuart passiert…?« Aber seine Worte hatten wenig Überzeugungskraft. Seine Stimme, die schon monoton klang, war kraftlos vom Schock.
    Die anderen rückten immer näher heran, drängten sie gegen den Tisch. Stuarts schlaffe linke Hand lag dicht vor ihnen.
    »Um der Liebe des Himmels willen«, sagte Tommy, »kann ihm denn keiner die Augen schließen?«
    Die Ordensmitglieder umstanden die Tafel von einem Ende zum anderen, eine Phalanx von Trauergästen in Schwarz. Trauerten sie wirklich? Sogar Joan Cross war da, am Kopfende; ihre Arme ruhten auf den Armlehnen ihres Rollstuhls, und ihre roten Augen starrten ihn an!
    Niemand sprach. Niemand rührte sich. Das erste Stadium der Stille war die Abwesenheit von Geplauder gewesen. Dies nun war das zweite Stadium: die Abwesenheit von Bewegung. Die Ordensmitglieder standen so reglos, daß er nicht einmal jemanden atmen hörte.
    »Was ist mit ihm passiert?« verlangte Tommy zu wissen.
    Noch immer antwortete niemand. Marklin konnte seinen Blick auf nichts mehr konzentrieren; immer wieder schaute er den kleinen Totenschädel mit den feinen weißen Haaren an. Hast du Selbstmord begangen, du Trottel, du verrückter Trottel? Ist es das? Gleich bei der ersten Gefahr einer Entdeckung?
    Und ganz plötzlich merkte er, daß die anderen nicht Stuart anschauten, sondern ihn, ihn und Tommy.
    Er fühlte einen Schmerz in der Brust, als habe jemand angefangen, mit unglaublich starken Händen auf sein Brustbein zu drücken.
    Er drehte sich um und durchforschte verzweifelt die Gesichter der Umstehenden – Enzo, Harberson, Elvera und die anderen starrten ihn mit bösen Augen an. Timothy Hollingshed stand neben ihm und schaute kalt auf ihn herunter.
    Nur Tommy starrte ihn nicht an. Tommy starrte über den Tisch hinweg, und als Marklin seinem Blick folgte, um zu sehen, was ihn da ablenkte und ihn das Grauen dieser ganzen Szene vergessen ließ, da erblickte er ein paar Schritte vor sich Yuri Stefano in schwarzer Trauerkleidung.
    Yuri! Yuri war hier, und er war die ganze Zeit hier gewesen! Hatte Yuri etwa Stuart umgebracht? Warum in Gottes Namen war Stuart nicht schlauer gewesen, warum hatte er Yuri nicht ablenken können. Und dieser Idiot Lanzing – hätte er Yuri doch nur nicht aus dem Glen entkommen lassen!
    »Nein, nein«, sagte Elvera. »Die Kugel hat ihr

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