Die Mayfair-Hexen
sollte irgendeinen entscheidenden Unterschied zwischen ihnen geben. Was war es nur? Marklin konnte sich nicht erinnern.
»Es gibt bestimmte Grundprinzipien«, sagte Nathan Harberson, und sein samtener Bariton wurde ein bißchen lauter, vielleicht auch ein bißchen zuversichtlicher.
»Und gewisse Dinge«, sagte der Zwilling Enzo, »können von uns nicht in Frage gestellt werden.
Timothy Hollingshed war herangekommen und schaute mit hocherhobener Adlernase auf Marklin herab, wie er es immer tat. Sein Haar war weiß und dicht, wie Aarons Haar es gewesen war. Marklin gefiel sein Aussehen nicht; es war, als habe er eine grausame Version Aarons vor sich, größer und von eher demonstrativer Eleganz. Gott, sieh dir bloß an, was dieser Mann für Ringe trägt. Regelrecht vulgär, und jeder hatte angeblich seine Geschichte, lauter Legenden von Schlachten, Verrat und Vergeltung. Wann können wir hier weg? Wann ist das alles zu Ende?
»Ja, für uns sind gewisse Dinge heilig«, sagte Timothy. »Als wären wir ein kleiner Staat für uns.«
Elvera war zurückgekommen. »Ja, es ist nicht nur eine Sache der Tradition.«
»Nein«, ergänzte ein großer Mann mit dunklen Haaren, tintenschwarzen Augen und bronzebraunem Gesicht. »Es geht um tiefe moralische Verpflichtung, um Loyalität.«
»Und um Ehrfurcht«, sagte Enzo. »Die Ehrfurcht nicht zu vergessen.«
»Es ist ein Konsens.« Elvera sah ihn an. Aber sie sahen ihn alle an. »Einigkeit darüber, was wertvoll ist, und darüber, wie es zu schützen sei – um jeden Preis.«
Weitere Leute hatten sich hereingedrängt, lauter alte Ordensmitglieder. Das leise Geplauder schwoll dementsprechend an. Wieder lachte jemand. Hatten diese Leute nicht Verstand genug, einmal nicht zu lachen?
Es ist absolut oberfaul, daß wir hier die einzigen Novizen sind, dachte Marklin. Und wo ist Tommy? Voller Panik begriff er, daß er Tommy aus den Augen verloren hatte. Nein – da war er. Aß Trauben vom Tisch wie ein römischer Plutokrat. Sollte genug Anstand haben, so etwas nicht zu tun.
Marklin nickte den Umstehenden rasch und voller Unbehagen zu, schob sich durch das dichte Gedränge von Männern und Frauen und wäre fast über einen fremden Fuß gestolpert, bevor er an Tommys Seite ankam.
»Was zum Teufel ist denn los mit dir?« wollte Tommy wissen. Er schaute zur Decke. »Um Gottes willen, entspanne dich. In ein paar Stunden sitzen wir im Flugzeug, und dann…«
»Psst. Sag nichts.« Marklin merkte, daß seine Stimme nicht mehr normal klang; er hatte sie nicht mehr in der Gewalt. Er konnte sich nicht erinnern, im Leben schon einmal soviel Angst gehabt zu haben.
Jetzt sah er, daß auch die Wände allesamt mit schwarzem Tuch verhangen waren. Die beiden Uhren in der großen Halle waren zugedeckt! Und die Spiegel, die Spiegel waren schwarz verschleiert. Es war absolut enervierend. Noch nie hatte er eine solche altmodische Trauerstaffage gesehen. Wenn in seiner Familie jemand gestorben war, hatte man ihn verbrannt. Jemand rief dann später an und teilte mit, daß es geschehen war. Genauso war es bei seinen Eltern gewesen. Er hatte im Internat im Bett gelegen und Ian Fleming gelesen, als der Anruf kam; er hatte genickt und gleich weitergelesen. Und jetzt hast du alles geerbt, absolut alles.
Plötzlich war ihm richtig schlecht von den Kerzen. Überall sah er die Kandelaber, teure Silberstücke. Einige waren sogar mit Edelsteinen besetzt. Gott, wie viel Geld mochte dieser Orden in seinen Gewölben und Tresoren horten? Ein kleiner Staat für sich, in der Tat! Aber das lag nur an Trotteln wie Stuart, der schon vor langer Zeit sein ganzes Vermögen dem Orden vermacht hatte; wenn man alles bedachte, hatte er dieses Testament allerdings inzwischen sicher geändert.
Wenn man alles bedachte. Tessa. Der Plan. Wo war Stuart jetzt – bei Tessa?
Das Stimmengewirr wurde immer lauter. Man hörte Gläser klingen. Elvera kam und schenkte ihm Wein nach.
»Trinken Sie, Mark«, sagte sie.
»Benimm dich, Mark«, flüsterte Tommy unangenehm dicht vor seinem Gesicht.
Marklin wandte sich ab. Dies war nicht seine Religion. Dies war nicht seine Tradition, im Morgengrauen im schwarzen Anzug herumzustehen und zu essen und zu trinken.
»Ich gehe jetzt!« erklärte er unvermittelt. Seine Stimme kam beinahe explosionsartig aus seinem Mund und hallte durch den ganzen Saal! Alle waren verstummt.
In der lastenden Stille hatte er eine Sekunde lang Mühe, nicht laut aufzuschreien. Sein Wunsch, zu schreien, war reiner als
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