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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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warum bin ich eigentlich hergekommen? fragte er sich, wie er es sich schon tausendmal gefragt hatte.
    Herr des Himmels, das war eine große, dicke, schwere Aluminium-Piroge, und sie hatte keinen Motor! Aber da war wirklich das Haus. Das ganze Ding hatte die Farbe von Treibholz, und violette Glyzinien hatten sich vollständig um die Kapitelle der oberen Säulen gerankt und griffen jetzt nach dem Verandageländer. Zumindest war das Baumdickicht in diesem Teil des Dschungels so dicht, daß er für den Augenblick fast im Trockenen stand. Ein grüner Tunnel führte zu der schiefen Vorderveranda. Oben brannte Licht; nun, das war eine Erleichterung. Hätte er sich hier im Schein einer Kerosinlaterne vorantasten müssen, wäre er vermutlich wahnsinnig geworden. Vielleicht war es ja schon wahnsinnig, daß er hier mit dieser verrückten jungen Frau durch die mit Entengrütze überwucherte Brühe plantschte, während die Bude da vorn jeden Augenblick darin versinken konnte.
    Mit der einen Hand schleppte er die Kühltasche mitsamt ihrem stillen kleinen Insassen, bis er zu dem flachen Boot gelangte. Zu seinem Entzücken stellte er fest, daß das Wasser darin fünf Zentimeter hoch stand. »Das Ding wird untergehen. Sie hätten es ausschöpfen sollen.« Seine Schuhe füllten sich auf der Stelle mit Wasser. Wieso hatte er sich bereitgefunden, hier herzukommen?
    »Es wird nicht untergehen. Das ist doch Pipiregen.« Mary Jane stieß ihre lange Stange in den Grund. »Jetzt halten Sie sich bitte fest und lassen Sie das Baby nicht naß werden.«
    Das Mädchen war unerträglich! Wo er herkam, redete niemand so mit einem Arzt! Dem Baby ging es prima unter seinen Handtüchern; es machte für ein Neugeborenes eine Menge mit.
    Und siehe da, sie glitten geradewegs über die Vorderveranda dieser verfallenen Ruine und durch die offene Haustür hinein.
    »Mein Gott, das ist ja wie in einer Höhle!« erklärte er. »Wie um alles in der Welt kann eine Frau denn hier entbinden? Sehen Sie sich das an. Da stehen Bücher im obersten Regal da vorn im Bücherschrank, dicht über dem Wasser.«
    »Na ja, es war niemand hier, als das Wasser hereinkam.« Mary Jane stemmte sich angestrengt gegen die Stange.
    Er hörte die dumpfen Geräusche der Stange unter ihnen auf den Bodendielen.
    »Ich schätze, da schwimmt noch ‘ne Menge Zeug rum im Wohnzimmer. Und Mona Mayfair hat ihr Baby nicht hier unten gekriegt, sondern oben. Frauen kriegen ihre Babys doch nicht im Wohnzimmer, selbst wenn es nicht unter Wasser steht.«
    Das Boot kollidierte mit der Treppe und schleuderte ihn so
    heftig nach links, daß er nach dem schleimig nassen Geländer
    greifen mußte. Er sprang hinaus und stampfte sofort mit beiden Füßen auf, um sich zu vergewissern, daß die Stufen nicht unter ihm versinken würden.
    Warmes Licht flutete von oben herunter, und durch das tosende Rauschen des Regens hörte er noch ein anderes Geräusch, ein sehr schnelles Klicken. Er kannte dieses Geräusch. Und dazu summte eine Frauenstimme. Irgendwie hübsch.
    »Wieso löst sich diese Treppe nicht einfach von der Wand?« fragte er. Die Kühltasche mit dem Kind fühlte sich allmählich an wie ein Sack Steine. »Wieso fällt diese ganze Bude nicht auseinander?«
    »Na, ich schätze, irgendwie ist sie schon dabei«, sagte Mary Jane. »Es dauert bloß ein-, zweihundert Jahre, wissen Sie?« Sie polterte vor ihm die Treppe hinauf und kam ihm in die Quere, als sie auf dem Absatz im ersten Stock stehen blieb und sich umdrehte. »Kommen Sie mit, wir müssen rauf auf den Dachboden.«
    Aber woher kam dieses klickedi-klickedi-klick? Und das Summen? Sie gab ihm keine Gelegenheit, sich umzusehen, sondern trieb ihn die Dachbodentreppe hinauf.
    Und dann sah er ganz oben Granny Mayfair in ihrem geblümten Flanellmorgenmantel, die ihm mit ihrer kleinen Hand zuwinkte.
    »Hallo, Dr. Jack. Wie geht’s meinem hübschen Jungen? Kommen Sie her, geben sie mir einen Kuß. Freut mich, Sie zu sehen.«
    »Ganz meinerseits, Grandma«, sagte er und erklomm den Rest der Treppe, obwohl Mary Jane sich schon wieder an ihm vorbeidrückte, wiederum mit der nachdrücklichen Ermahnung, nur ja das Kind gut festzuhalten. Noch vier Stufen, und er würde das Bündel mit Vergnügen auf den Boden stellen. Wieso mußte er es eigentlich überhaupt schleppen?
    Endlich war er in der warmen, trockenen Luft des Dachbodens angekommen. Die kleine alte Dame erhob sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuß auf die Wange zu drücken. Grandma Mayfair liebte

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