Die Mayfair-Hexen
Schranktüren.
Wir engagieren unauffällige Leute, dachte Ash, und dann können sie uns keinen Trost spenden; was wir nur tolerieren, kann uns nicht retten.
»Wo ist die junge Leslie, Remmick? Ist sie in der Nähe?«
»Ja, Sir, und sie hat eine Million Fragen, wie es scheint. Aber Sie sehen so müde aus.«
»Schicken Sie sie herein. Ich muß mich mit irgend etwas beschäftigen.«
Er ging den Korridor hinunter ins erste seiner Büros, in das private Arbeitszimmer, wo die Papiere sich hier und da stapelten, wo ein Aktenschrank offenstand, wo niemand saubermachen durfte und wo es unerträglich unaufgeräumt war.
Leslie erschien nach wenigen Sekunden; ihr Gesicht strahlte vor Aufregung, Engagement, Ergebenheit und unerschöpflicher Energie. »Mr. Ash, nächste Woche ist die Internationale Puppenmesse, und eben hat eine Frau aus Japan angerufen und gesagt, Sie wollten unbedingt ihre Arbeiten sehen, das härten Sie selbst gesagt, als Sie das letzte Mal in Tokio waren, und Sie haben ungefähr zwanzig Termine versäumt, während Sie weg waren, ich habe hier die ganze Liste…«
»Dann setzen Sie sich, und wir kümmern uns darum.«
Der Schnee draußen war sehr dicht geworden, sehr weiß vor der Scheibe.
Alles andere war wieder schwarz. Kleine, regellose Geräusche kamen von den Straßen herauf – oder kamen sie aus den Leitungen, oder war es der Schnee, der oben auf das Dach rieselte, oder war es nur das Stahlglas des Gebäudes, das unweigerlich atmete, wie Holz atmet? Oder schwankte das Gebäude mit seinen Dutzenden von Stockwerken kaum merklich im Wind wie ein Riesenbaum im Wald?
Er redete und redete und beobachtete, wie ihre wütende kleine Hand sich mit dem feinen Stift über das Papier bewegte.
»Ach ja, und einen Spezialauftrag, etwas, das Sie morgen erledigen sollen, oder vielleicht übermorgen. Nein, später. Sie tun folgendes. Sie gehen hinunter ins Privatmuseum…«
»Ja, Sir.«
»Die Bru – kennen Sie die Bru, die große französische Puppe? Meine Prinzessin?«
»Die Bru, Sir, jawohl, Sir.«
»Bru Jne 14, Größe sechsunddreißig Zoll, Haar, Schuhe, Kleid, Höschen etc. komplett original. Ausstellungsstück Nummer eins.«
»Ja, Sir, ich weiß genau, welche Sie meinen.«
»Sie werden sie einpacken, Sie und niemand sonst. Und dann schicken Sie sie… schicken Sie sie…« Aber an wen? War es anmaßend, sie direkt an das ungeborene Kind zu schicken? Nein, sie sollte an Rowan Mayfair gehen, nicht wahr? Natürlich. Und für Michael irgendein anderes Erinnerungsstück, auf seine Art genauso kostbar, etwas sorgfältig aus Holz Geschnitztes, eins der ganz, ganz alten Spielzeuge, der Ritter auf seinem Pferd, jawohl, ganz aus Holz, der soll es sein, mit Resten der Origmalbemalung… Aber nein, das war nicht das richtige Geschenk, nicht für Michael. Es gab ein Geschenk, ein kostbares Geschenk, etwas, das ebenso prächtig war wie die Bru und das er in Michaels Hände geben wollte.
Er stand hinter seinem Schreibtisch auf und bat die junge Leslie, ruhig sitzen zu bleiben. Er durchquerte den geräumigen Sitzbereich und ging den Gang hinunter zu seinem Schlafzimmer.
Er hatte es unter das Bett geschoben, ein einfaches Zeichen für Remmick: Es handelte sich um etwas Kostbares und durfte nicht einmal von den wohlmeinendsten Bediensteten angerührt werden. Er fiel auf die Knie und tastete danach, und dann zog er es hervor. Das Licht funkelte wunderschön auf dem edelsteinbesetzten Deckel.
Auf einmal kam ihm alles wieder zu Bewußtsein, der Schmerz, die Demütigung, Ninians Gelächter, während er ihm sagte, welch schreckliche Blasphemie er hier begangen habe, indem er ihre Geschichte in den heiligen Stil, in die heilige Sprache gegossen habe.
Lange saß er so da, die Beine über kreuz, die Schulter seitlich ans Bett gelehnt. Er hielt das Buch in den Händen. Ja, für Michael. Michael, der Junge, der Bücher liebte. Michael würde es vielleicht nie lesen können, aber das war nicht so wichtig. Michael würde es behalten, und es wäre ein bißchen so, als hätte er es auch Rowan gegeben. Sie würde es verstehen.
Als er wieder ins Arbeitszimmer kam, hatte er das Buch in ein großes weißes Handtuch geschlagen.
»Das hier, dieses Buch, ist für Michael Curry, und die Bru für Rowan Mayfair.«
»Die Bru, Sir? Die Prinzessin?«
»Ja. Die. Und jetzt lassen Sie uns zu anderen Dingen übergehen. Lassen Sie sich etwas zu essen kommen, wenn Sie Hunger haben. Ich habe hier eine Aktennotiz, derzufolge die Primaballerina
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