Die Mayfair-Hexen
Michael weinend an ihrem Bett gesessen hatte, da hatten Leute im Haus gelacht. Sie erinnerte sich, daß sie darüber nachgedacht hatte, auf unb e teiligte Weise über beide Laute nachgedacht hatte, ohne Schrecken, ohne Reaktion. Die Wahrheit war, daß Lachen stets vollkommener klang als Weinen. Das Lachen floß in wi l den Kaskaden und war immer mühelos melodisch. Weinen klang oft unterdrückt, erstickt, halb erwürgt, oder man unte r warf sich ihm demütig.
Michael verschlang die letzten Reste von Roastbeaf, Reis und Sauce und trank sein Bier aus. Sofort kam jemand herüber und stellte ihm eine neue Dose neben den Teller; er nahm sie und trank sie gleich halb leer.
»Ist das gut für dein Herz?« murmelte sie. Er reagierte nicht.
Sie schaute auf ihren Teller. Auch sie hatte ihre Portion verzehrt.
Daß er sie liebte, war ein ebensolches Wunder wie alles, was ihr passiert war, wie überhaupt alles, was irgend jemandem in diesem Haus passiert war. Und wenn man es sich genau übe r legte, dachte sie, war alles in diesem Haus passiert. Sie fühlte sich hier verwurzelt, mit dem Haus verbunden auf eine Weise, wie sie es anderswo nie empfunden hätte – nicht ei n mal an Bord der Sweet Christine, wenn sie sich tapfer durch das Golden Gate gepflügt hatte. Sie spürte mit kraftvoller G e wißheit, daß dies ihr Zuhause war und daß es immer so sein würde; und während sie auf ihren Teller starrte, dachte sie an den Tag, an dem Michael und sie zusammen durch das Haus gewandert waren, als sie die Speisekammer geöffnet und all dieses alte Porzellan gefunden hatten, dieses kostbare Porze l lan und das Silber.
Und doch könnte all das zugrunde gehen, könnte ihr und i h nen alles entrissen und davon gewirbelt werden im Sturm e i nes heißen Atems, des Atems aus dem Schlund der Hölle. Was hatte ihre neue Freundin Mona Mayfair noch vor wenigen Stunden gesagt? »Rowan, es ist noch nicht vorbei.«
Nein, noch nicht vorbei. Und Aaron? Hatten sie überhaupt das Mutterhaus angerufen, um seine ältesten Freunde wissen zu lassen, daß er gestorben war, oder sollte er hier, bei seinen neuen Freunden und angeheirateten Verwandten, begraben werden?
Die Lampen auf dem Kaminsims brannten hell.
Es war noch nicht dunkel draußen. Durch den Kirschlorbeer sah sie, daß der Himmel seine legendäre Purpurfarbe hatte. Die Wandgemälde verströmten ihre beruhigenden Farben im Zwielicht des Zimmers; und in den prachtvollen Eichen, den Eichen, die einen trösten konnten, wenn kein Mensch es mehr konnte, hatten die Zikaden zu singen angefangen. Warme Frühlingsluft wehte von den Fenstern, die ringsum offen sta n den, durch das Zimmer – von den Fenstern und im Salon und vielleicht auch hinten, wo der große, unbenutzte Swimmingpool lag, von den Fenstern, die sich zu dem Friedhof im Ga r ten öffneten, wo die Leichen lagen: die Leichen ihrer eigenen Kinder.
Michael trank sein zweites Bier aus, quetschte die Dose wie immer zusammen und stellte sie dann säuberlich hin, als verlange der Tisch solche Schicklichkeit. Er sah sie nicht an. Er starrte zu den Lorbeerbäumen hinaus, deren Zweige die Pfeiler der Veranda streichelten, die Fensterscheiben im oberen Stock. Vielleicht betrachtete er den violetten Himmel. Vielleicht lauschte er dem Tumult der Stare, die zu dieser Stunde in he l len Scharen umherrschwirrten, um die Zikaden zu fressen. Es war der pure Tod, dieser Tanz: die Zikaden, die von Baum zu Baum schwärmten, und die Wolken von Vögeln, die hin und her über den Abendhimmel flatterten. Nur der Tod. Eine Art fraß die andere.
»Das ist alles, meine Liebe«, hatte sie am Tag ihres Erw a chens gesagt. Ihr Nachthemd und ihre Hände waren lehmb e schmiert gewesen, und mit nackten Füßen hatte sie im nassen Schlamm am Rand des neuen Grabes gestanden. »Das ist alles, Emaleth. Eine Frage des Überlebens, meine Tochter.«
Ein Teil ihrer selbst wollte zu den Gräbern in den Garten z u rückkehren, zu dem Eisentisch unter dem Baum, zu jenem danse macabre der geflügelten Geschöpfe dort oben, die den grellpurpurnen Abend mit ihrem zufälligen und prachtvollen Gesang vibrieren ließen. Aber ein anderer Teil ihrer selbst wagte es nicht.
Sie schaute ihren Mann an. Den Mann, der da auf dem Stuhl hing und die unglückliche Bierdose zu etwas Rundem, bein a he Flachem zerquetschte, ohne den Blick vom Fenster zu wenden.
Er war wundervoll und furchtbar zugleich – unbeschreiblich attraktiv für sie. Und die furchtbare, schändliche Wahrheit war,
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