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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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weißer Blumen. Sein Mund war voll Blut.
    Sie schaute die Augen an, die ihren Blick nicht erwiderten. Dich zu kennen, dich zu lieben! Sie beugte sich dicht darüber. Ja, er war auf der Stelle gestorben. Vom Herzen her, nicht vom Gehirn. Sie strich über die Lider, daß sie sich schlössen, und ließ die Finger dort ruhen.
    Wer in diesem Gewölbe würde denn eine ordentliche Autopsie durchführen? Sieh dir die Flecken an den Wänden an. Rieche den Gestank aus den Schubfächern.
    Sie zog das Laken weiter zurück und riß es dann beiseite, u n geschickt oder ungeduldig, sie wußte es nicht genau. Das rechte Bein war zermalmt. Offensichtlich waren ein Teil des Unterschenkels und der Fuß abgerissen und in das Hosenbein zurückgestopft worden. Die rechte Hand hatte nur noch drei Finger, die beiden anderen waren brutal abgerissen, restlos. Ob jemand die Finger eingesammelt hatte?
    Sie hörte ein knirschendes Geräusch. Der chinesische Kriminalpolizist kam herein; etwas Erde unter seinen Sohlen mac h te dieses schreckliche Geräusch auf dem Kachelboden.
    »Alles okay, Doktor?«
    »Ja«, sagte sie. »Ich bin fast fertig.« Sie ging um den Tisch herum auf die andere Seite. Sie legte die Hand auf Aarons Kopf, auf den Hals, und sie stand still da und dachte, lauschte, tastete.
    Es war der Autounfall gewesen, schlicht und brutal. Wenn er gelitten hatte, dann schwebte davon kein Bild mehr in seiner Nähe. Wenn er darum gekämpft hatte, nicht zu sterben, dann würde auch dies für allezeit unbekannt bleiben. Beatrice hatte gesehen, wie er versuchte, dem Wagen auszuweichen; das glaubte sie jedenfalls. Mary Jane Mayfair hatte berichtet: »Er wollte noch aus dem Weg springen. Aber es ging nicht.«
    Schließlich trat sie zurück. Sie mußte sich die Hände waschen, aber wo? Sie ging zum Waschbecken, drehte den ant i ken Wasserhahn auf und ließ sich das Wasser über die Finger fluten. Dann drehte sie es ab, stopfte die Hände in die T a schen ihres Baumwollmantels und ging an dem Cop vorbei in den kleinen Vorraum vor den Schubfächern mit den Toten, auf die keiner Anspruch erhob.
    Michael war da. Er hatte eine Zigarette in der Hand, sein Hemdkragen stand offen, und er wirkte völlig entkräftet von der Trauer und der Last des Tröstens.
    »Du willst ihn sehen?« fragte sie. Der Hals tat ihr noch weh, aber das war ihr völlig gleichgültig.
    »Ich glaube nicht«, sagte Michael. »Ich war noch nie in dieser Lage. Wenn du sagst, er ist tot, und das Auto hat ihn getötet, und ich kann nichts weiter dabei erfahren, dann will ich ihn nicht sehen.«
    »Das verstehe ich.«
    »Von dem Geruch hier wird mir schlecht. Mona ist es schon schlecht.«
    »Es gab eine Zeit, da war ich daran gewöhnt«, sagte sie.
    Er trat dicht an sie heran, faßte ihren Nacken mit seiner gr o ßen, rauhen Hand und küßte sie auf eine unbeholfene Weise, die ganz anders war als die zärtliche, entschuldigende Art, wie er sie in den Wochen ihres Schweigens geküßt hatte. Ihn schauderte am ganzen Leibe, und sie öffnete die Lippen und erwiderte seinen Kuß und zerquetschte ihn mit den Armen oder versuchte es doch wenigstens.
    »Ich muß hier raus«, sagte er.
    Sie trat nur einen Schritt zurück und warf noch einen Blick in den anderen Raum, wo der blutige Haufen lag. Der chines i sche Cop hatte das Laken wieder darüber gezogen, aus R e spekt vielleicht, oder auch aus Routine.
    Michael starrte die Schubfächer an der Wand gegenüber an. Leichen, die darin lagen, verströmten den gräßlichen Gestank. Sie schaute hinüber. Ein Schubfach stand einen Spaltbreit offen, vielleicht weil es sich nicht schließen ließ. Sie konnte sehen, daß zwei Tote darin lagen; der braune Kopf des einen war aufwärts gewandt, und die rosigen, verschimmelten Füße des anderen lagen unmittelbar darauf. Auch auf dem Gesicht war grünlicher Schimmel. Aber das Grauenhafte war nicht der Schimmel; es war die Art, wie die beiden aufeinandergestapelt waren. Die Toten, auf die niemand Anspruch erhob, auf ihre Art so intim vereint wie ein Liebespaar.
    »Ich kann nicht mehr…«, sagte Michael.
    »Ich weiß. Komm.«
    Als sie ins Auto stiegen, hatte Mona aufgehört zu weinen. Sie starrte aus dem Fenster, so tief in Gedanken versunken, daß sie sich jedes Gespräch, jede Ablenkung verbat. Ab und zu drehte sie sich um und warf Rowan einen Blick zu. Rowan erwiderte den Blick, fühlte seine Kraft und seine Wärme. Drei Wochen lang harte sie dem Kind zugehört, wie es ihr sein Herz ausschüttete – eine

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