Die Medica von Bologna / Roman
gut, dann hörte ich Latif plötzlich japsen: »Herrin, bitte, ich kann nicht mehr, ich muss mich setzen!«
Wir befanden uns gerade auf der Piazza Maggiore, und ich rief ihm zu: »Lass uns hinüber zur
Fontana del Nettuno
gehen, da kannst du dich auf dem Brunnenrand ausruhen!«
Es gelang uns tatsächlich, dorthin zu gelangen, doch der Brunnenrand war voll besetzt, und niemand dachte daran, für einen dicken Eunuchen Platz zu machen. Da ließ Latif sich einfach auf den Boden plumpsen, wo er wie ein Fels in der Brandung dem Ansturm der Massen trotzte. Ich jedoch hatte dem Menschenstrom weniger entgegenzusetzen, weshalb ich alsbald fortgerissen wurde und vor dem Palazzo del Podestà landete, wo unter großem Gejohle das Aufknüpfen jener zwei unglücklichen Männer nachgespielt wurde, die dort im Jahre 1538 ihrer gerechten Strafe zugeführt worden waren, weil sie Geheimnisse der Seidenherstellung verraten hatten. Um die drakonische Strafe und ihre alljährliche Wiederholung besser zu verstehen, muss man wissen, dass Bolognas Seidenerzeugung eine der gewinnbringendsten Einnahmequellen der Stadt ist, mit rund dreißigtausend Arbeitern, die jedes Jahr mehr als dreihunderttausend Pfund dieses kostbaren Produkts herstellen.
Natürlich waren die Menschen weit davon entfernt, an derlei Hintergründe zu denken, sie ergötzten sich vielmehr an der gespielten Qual der Sünder, die unter anfeuerndem Geschrei ständig aufs Neue gehängt wurden, dabei grässliche Laute und Flüche ausstießen und obendrein noch deftige Zoten zum Besten gaben.
So schauerlich ich das Treiben zunächst fand, so unterhaltsam erschien es mir nach einiger Zeit. Die Menschen waren froh, den Ärger des Alltags vergessen zu können, und mir erging es ganz genauso. Ich ertappte mich dabei, wie ich über Dinge lachte, die ich sonst keineswegs witzig fand, und ich staunte über mich selbst, wie bedeutsam mir plötzlich jede Banalität erschien. Über alledem hatte ich Latif völlig vergessen, aber ich sagte mir, er würde auch ohne mich zurechtkommen und allein nach Hause finden.
An der Rückseite von San Petronio, schräg gegenüber vom Archiginnasio, erblickte ich ein durch die Luft gespanntes Seil, auf dem ein
acrobata
stand. Er hielt eine lange Stange quer vor sich, um das Gleichgewicht besser halten zu können, und setzte sich mit winzigen Schritten in Bewegung. Die Leute brüllten auf vor Begeisterung, während er mit immer sicherer werdenden Schritten über das Seil balancierte. Es sollte ihn direkt zu einem der großen Fenster hoch oben in der Mauer von San Petronio führen.
Sein ohnehin gewagter Auftritt wurde noch gefährlicher durch einige Burschen unter Tier- und Dämonenmasken, die sich einen Spaß daraus machten, ihn von unten mit Kieseln zu bewerfen. Einige trafen ihn sogar, was begeistertes Gebrüll zur Folge hatte, doch er fiel nicht. Er wurde immer schneller und landete schließlich wohlbehalten am geöffneten Fenster, in das ihn hilfreiche Hände hineinzogen.
Die Burschen unter den Masken heulten vor Enttäuschung, weil ihnen das Wild entkommen war, während die meisten Zuschauer hörbar aufatmeten und sich gleich darauf anderen Attraktionen zuwandten.
Schon nahten die tanzenden Masken der Gegensätzlichkeit, deren Träger vielerlei Allegorien darstellten: den Tod und das Mädchen, Feuer und Wasser, Engel und Teufel, Nymphe und Bacchus, Melancholie und Ausgelassenheit. Sie posierten und agierten und musizierten auf die ausgelassenste Weise und wurden immer wieder von leichtbekleideten Blumenmädchen getrennt, die sich zwischen sie drängten, um sie mit Blüten und Kränzen zu bewerfen. Weitere Paare kamen näher: Arlekino und Columbine, Himmel und Erde, Sonne und Mond …
Ich konnte mich nicht sattsehen an der bunten Vielfalt der Sinnbilder und kam mir mit meiner Venusmaske eher schlicht vor. Doch das Gefühl, sie zu tragen, war unvergleichlich. Sie schmiegte sich kühl und glatt an mein Gesicht und gab mir Sicherheit. Ich begann, mit den Maskierten um mich herum zu scherzen und zu singen und mit ihnen zu tanzen, wobei ich zu meiner Überraschung immer wieder männliche Stimmen vernahm, die mir Komplimente zuriefen, wie
»Bella donna!«, »Sventola!«
oder
»Donna affascinante!«.
Ich spürte, wie ich rot wurde, fühlte mich aber im Schutz meiner Maske herrlich geborgen. Ich wurde mutiger, ja, sogar frech, und gab kecke Antworten, wurde umfasst und auf die Maske geküsst, und nicht nur auf die Maske, auch auf andere, heiklere
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