Die Medica von Bologna / Roman
Casa Rifugio nahm mich so in Anspruch, dass ich unser Gespräch bald vergessen hatte. Es erschien mir selbstverständlich, dass Latif immer da war – und ich wunderte mich, als ich ihn eines Abends nicht antraf. Ich lief durch alle Räume meines Hauses und rief lauter und lauter nach ihm. Aus meiner Verwunderung über seine Abwesenheit wurde Angst. Wo war er nur? Ihm war doch nichts passiert? »Latif!«, rief ich. »Wo bist du? Hast du dich versteckt? Mach keine Späße mit mir, komm hervor!«
Doch Latif war nicht da. Ich musste es einsehen, nachdem ich jeden Quadratzoll meines Hauses durchsucht hatte. Er war und blieb fort.
Ich wurde immer unruhiger und schenkte mir ein Glas Rotwein ein. Doch ich wurde nicht ruhiger. Da seine Sachen noch alle da waren, musste ihm etwas zugestoßen sein. Vielleicht beim Einkaufen. Vielleicht war er auch überfallen worden. Manche Halunken töteten schon um ein paar Baiocchi willen. Oder er war unter eine Kutsche gekommen, wie damals meine Mutter …
Es hielt mich nicht länger auf meinem Stuhl. Ich sprang auf und warf das Glas dabei um, aber das kümmerte mich nicht. In fliegender Hast setzte ich mir wieder das Barett auf und verließ das Haus. Ich wollte die Wachtposten an der Porta di San Felice fragen, ob sie ihn gesehen hatten. Doch sie schüttelten den Kopf, sie hatten keine Ahnung, wo er war. Ich wurde immer aufgeregter, lief herum wie ein aufgescheuchtes Huhn, forschte hier, fragte da und stolperte am Ende fast über ihn, als er mir in einer Seitengasse entgegenkam. Ich hatte mir vorgenommen, ihm gehörig die Meinung zu sagen und ihn zu fragen, wie er dazu komme, so lange das Haus zu verlassen, ohne eine Nachricht hinterlegt zu haben. Doch als ich ihn sah, war ich so grenzenlos erleichtert, dass ich nichts sagte, sondern ihm einfach nur in die Arme fiel.
»Wo warst du nur so lange?«, fragte ich.
»Aber Herrin, habt Ihr mich etwa gesucht?«, fragte er zurück.
»Natürlich. Ich habe mir die größten Sorgen gemacht!«
»Oh, Herrin, das tut mir sehr leid. Aber ein klein wenig freut es mich auch. Ich war bei der kleinen Teresa und habe ihr ein Schaukelpferd aus Pinienholz gebracht. Ich habe es selbst hergestellt. Sie hat sich sehr gefreut. Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr heute Abend zum Essen kommt, hätte ich etwas vorbereitet, aber ich wusste es nicht – wie immer.«
Ich trat einen Schritt zurück. »Bitte, Latif, mach mir jetzt kein schlechtes Gewissen. Es ist schon schwer genug für mich, beiden Seiten gerecht zu werden.«
»Ja, Herrin, aber andere Ärzte haben auch viel zu tun und sind trotzdem abends zu Hause. Allah, der Gerechte, der Unbestechliche, ist mein Zeuge. Könntet Ihr Conor und die Seinen zukünftig nicht bei uns in der Strada San Felice behandeln?«
Diesen Einfall hatte ich auch schon gehabt, aber ich hatte ihn sofort wieder verworfen, denn schon einmal war ich beobachtet worden – auf Anweisung des undankbaren Helvetico, der rechten Hand des Inquisitors Seiner Heiligkeit, Baldassare Savelli. »Das geht nicht, Latif, und du weißt auch, warum. Denk an die beiden Spione, die unser Haus über Monate nicht aus den Augen gelassen haben.«
»Ja, Herrin. Ihr habt recht. Aber auch ich habe ein bisschen recht, das müsst Ihr zugeben. Außerdem knurrt mir der Magen. Teresas Mutter hat mir etwas von ihrer Abendspeise angeboten, aber da war so wenig auf dem Tisch, dass ich ihr und dem Kind nichts wegessen wollte. Ihr kennt ja meinen großen Appetit.«
»Wo du gerade davon sprichst: Wir könnten zu Paolo gehen und dort etwas zu uns nehmen.«
»Oh, fein, Herrin! Ich lade Euch ein.«
»Das kommt nicht in Frage. Es schickt sich nicht für einen Diener, seine Herrin einzuladen.«
»Und wenn ich heute Abend ausnahmsweise einmal nicht Euer Diener wäre?«
»Nun ja.« Ich zögerte. »Dann wäre es vielleicht etwas anderes.«
Weitere Monate vergingen. Es gelang mir mehr schlecht als recht, die Zeit meiner Anwesenheit zu gleichen Teilen zwischen der Via Urbana und der Strada San Felice aufzuteilen. Um ehrlich zu sein, verbrachte ich mehr Stunden bei den Bettlern als bei mir zu Hause. Latif sagte dazu nichts. Ein paarmal versuchte er, mich abermals ins
Da Paolo
einzuladen, doch es kam immer etwas dazwischen.
Das Jahr 1584 brach an, und ich machte einen Besuch bei Mutter Florienca, der gütigen Oberin des Klosters von San Lorenzo. Sie saß wie immer hinter ihrem Schreibtisch mit der Madonnenfigur und streckte mir zur Begrüßung ihre Hand entgegen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher