Die Medica von Bologna / Roman
Carla. Das andere klingt so förmlich. Um dennoch eine Prognose zu wagen, schätze ich, dass du deine Finger in spätestens zwei Monaten wieder gut bewegen kannst.«
»Das ist eine lange Zeit … Carla.«
»Es ist nur der sechste Teil eines Jahres, und du hast noch viele Jahre vor dir.«
»Danke, Carla.«
Ludovico blieb nicht der Einzige, der meine ärztliche Fürsorge in Anspruch nahm, denn als sich einmal herumgesprochen hatte, dass Conor und seiner Gemeinschaft jederzeit eine Ärztin zur Verfügung stand, kamen auch andere Bettler zur Casa Rifugio, dem Haus der Zuflucht, um sich behandeln zu lassen. Conor war das am Anfang nicht recht, er hatte Einwände, aber ich sagte ihm, ich wolle eine Ärztin für alle Armen und Unterdrückten sein – und nicht nur für ein paar Auserwählte. Das müsse er akzeptieren.
So kam es, dass ich bald darauf mehr Zeit in der Via Urbana verbrachte als in der Strada San Felice, was mir allerdings wenig ausmachte – wenn da nicht Latif gewesen wäre.
»Herrin«, sagte er eines Abends, »als ich Euch bat, Conor und seinen Bettlern mit Eurer Kunst zu helfen, ahnte ich nicht, dass Ihr kaum noch zu Hause sein würdet. Nie weiß ich, ob Ihr kommt und wann Ihr kommt. Nie weiß ich, ob ich die Speisen für uns beide gekocht habe oder ob ich sie am Ende allein essen muss. Seht mich an, ich werde immer dicker. Es ist heute schon schlimmer als damals, als ich Vorkoster zu Zeiten Selims II ., des ›Trunkenen‹, war.«
»Entweder ich mache etwas ganz oder gar nicht, Latif«, entgegnete ich.
»Oh, Herrin, das klingt gut. Das verstehe ich sogar.« Latif kullerte mit den Augen. »Aber könntet Ihr in Zukunft die Dinge nicht ein kleines bisschen weniger ganz machen? Ich meine, es wäre doch nicht recht, dass ich erst platzen müsste, damit Ihr wieder Zeit für mich habt?«
»Das möchte ich natürlich nicht. Aber du musst einsehen, dass ich einen Kranken, der zu mir kommt, nicht einfach wegschicken kann.«
»Ja, Herrin, aber vergesst nicht: Ihr habt auch ein Zuhause. Man kann nicht immer nur arbeiten. Wer zu viel arbeitet, wird müde. Und gerade Ihr als Ärztin dürft niemals müde sein, sonst könnten die Patienten darunter leiden.«
»Du hast recht. Und deshalb gehe ich jetzt zu Bett. Gute Nacht, Latif.«
»Werdet Ihr in Zukunft abends wieder öfter zu Hause sein, Herrin?«
»Ich will mir Mühe geben.«
Doch trotz allen guten Willens kam ich in der folgenden Zeit meist so spät nach Hause, dass ich Latif schon schlafend vorfand. Ich fiel völlig erschöpft in mein Bett und stand morgens in aller Frühe wieder auf, um den Weg zur Casa Rifugio anzutreten. Ich tat es aus Verantwortungsgefühl meinen Kranken gegenüber, aber auch – wenn ich ehrlich bin –, um Latif aus dem Weg zu gehen.
Die Operation der kleine Teresa war der Anstoß gewesen, der mich aus meiner Starre erlöst hatte, danach schien es für mich kein Halten mehr zu geben. Als wolle ich nachholen, was mir so viele Jahre versagt geblieben war, behandelte ich einen Fall nach dem anderen. Nachdem ich Ludovicos Finger gerichtet hatte, kümmerte ich mich um den Tanzmäuser und seinen verkürzten Arm, der an einer alten Bruchstelle wieder zu Entzündungen neigte. Danach um das offene Bein eines Gauklers aus der Gemeinde San Rocco, das ich mit Kräuterkissen aus Rosskastanie, wilder Malve, Arnika und Steinklee behandelte, danach um einen Färber, dessen Hände und Arme aufgrund seiner Arbeit durch einen hässlichen Ausschlag verunstaltet waren, danach um drei Obdachlose, die vor einer Schänke in eine Rauferei geraten waren und erhebliche Blessuren davongetragen hatten, danach um die Erblindung eines Greises aus der Gemeinde San Mamolo, dem ich durch den Starstich einen Teil seiner Sehkraft wiedergeben konnte, danach um mehrere geprellte Rippen, die Fabio sich bei einem Sturz zugezogen hatte, danach um die Vergiftung eines Bettlerkindes, das aus Langeweile Oleanderblätter und -blüten gegessen hatte, danach um die Entfernung eines eitrigen Zahns bei einer Lumpensammlerin, danach um die Gürtelrose, unter der ein Verwandter von Sberleffo litt … und so weiter und so weiter. Bei alledem ging ich ohne viel Aufhebens vor, denn für mich zählte nur das Resultat meiner Bemühungen – und nicht die blumige Rede, wie bei vielen anerkannten Doktoren.
Ich schnitt Warzen heraus, renkte Glieder ein, behandelte Hühneraugen, ich verordnete Heilsäfte aus Weidenrinde, Tinkturen aus Opium und Beruhigungstropfen aus
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