Die Medica von Bologna / Roman
dem Skelettgerüst zu tun hatte, wie Knochen, Wirbel und Rippen; alles, was mit den Blutwegen zu tun hatte, wie Hohladern, Luftadern und Pulsadern, und so weiter und so fort.
Ich war stolz auf meine Unterlagen und las sie immer wieder durch, bis ich ihren Inhalt wie im Schlaf heruntersagen konnte und das Wunder des Zusammenwirkens der menschlichen Körperteile endgültig begriff.
Im Laufe der Zeit ergab es sich, dass ich meinen gesamten Tagesablauf nach den Lektionen im Archiginnasio ausrichtete, was das eine oder andere Mal sogar eine Vernachlässigung meines Dienstes bei den gottesfürchtigen Nonnen von Mutter Florienca zur Folge hatte. Doch Schwester Marta war mir nach wie vor wohlgesinnt, sie nahm mich in Schutz und half dabei, meine kleinen Saumseligkeiten zu vertuschen.
Jedes Mal, wenn ich meinen Dienst im Klosterhospital beendet hatte, zog ich mir hastig meine Alltagskleidung an, strich die Röcke glatt, setzte mein Barett auf und steckte es mit der beinernen Hutnadel fest. Bei aller Unrast, die ich dabei verspürte, verwandte ich auf das Feststecken des Baretts doch die größte Sorgfalt, denn von seinem guten Sitz hing auch der gute Sitz des Schleiers ab, der mir nach wie vor Sicherheit gab.
Der Weg von den Nonnen zum Universitätsgebäude war gottlob nicht sehr lang: Aus dem Aedificium der Nonnen heraustretend, passierte ich zunächst das hohe Giebelgebäude Santa Liberata, durchschritt rasch den sich anschließenden Arkadengang nach Norden, stets begleitet vom Rauschen und Murmeln des von der Ponte di Santa Castiglione abgeleiteten Kanals, wandte mich dann beim Croce de Castiglio nach links und sah nur ein paar Herzschläge später schon den beeindruckenden Palazzo dell’Archiginnasio vor mir.
Ich mochte die Strecke wohl schon hundert Male oder mehr gegangen sein, als ich eines Tages in einer der von den Arkaden abzweigenden Seitengassen eine verwitterte Schrift an einer Hauswand entdeckte:
Corpus in perfectio natura
stand da zu lesen. Das klang verheißungsvoll. Weniger verheißungsvoll allerdings sah der Eingang des Hauses aus. Die Tür erinnerte mich an den altersschwachen Einlass, durch den ich in letzter Zeit so oft das Gebäude des Archiginnasios heimlich betreten hatte. Doch im Gegensatz zur Universität handelte es sich hier um ein ganz normales Haus, in dem Körper angeboten wurden, die in ihrer Perfektion der Natur glichen. Neugierig betätigte ich den Türklopfer und wartete. Mehr als fortschicken, sagte ich mir, konnte man mich nicht.
Ich wartete, aber nichts geschah.
Ich klopfte noch einmal – nichts.
Da drückte ich entschlossen die Klinke nach unten und trat ein. Es war ein schmaler, durch eine Laterne schwach erhellter Flur, der sich vor mir auftat. Links und rechts gingen keine Türen ab, so dass ich nach ein paar Schritten wie von selbst in einen Raum gelangte, in dem mehrere u-förmig aufgebaute Tische standen. Was auf den Tischen lag, war auf den ersten Blick nicht erkennbar, ich sah nur, dass es sich um viele kleine Gegenstände handelte. Ich wollte sie gerade näher betrachten, als sich ein Vorhang teilte und ein runzelgesichtiges Männchen erschien. Alles an ihm war winzig, der Körper, die Gliedmaßen, der Kopf. Nur seine Augen wirkten groß. Sie leuchteten mir freundlich entgegen, und mit ebenso freundlicher Stimme sagte es: »Hattet Ihr geklopft, Signorina? Ihr müsst wissen, dass mein Gehör nicht mehr das beste ist. Wahrscheinlich habt Ihr Euch schon mehrmals bemerkbar gemacht, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich, »entschuldigt, dass ich so hereinplatze, aber der Schriftzug an der Hauswand …«
»Wird von den wenigsten Leuten entdeckt.« Das Männchen kicherte. »Und von noch weniger verstanden. Wer ihn aber versteht und den Weg zu mir findet, der hat einiges Interesse an den Dingen, die so vollkommen sind wie die Natur. Habe ich recht?«
»Ja, Ihr habt recht, Signore«, antwortete ich und wunderte mich über den Scharfsinn meines Gegenübers.
»Und jetzt fragt Ihr Euch natürlich, welche Dinge damit gemeint sind, stimmt’s?«
»Ja, Signore. Ihr scheint Gedanken lesen zu können.«
»Ich, Gedanken lesen? Hihi, zu viel der Ehre! Es ist ganz einfach so, dass ich mein Gewerbe seit mehr als vierzig Jahren ausübe, eine lange Zeit, die mir Muße genug ließ, viel über die Menschen im Allgemeinen und noch mehr über meine Kundschaft im Besonderen zu lernen. Ihr aber scheint eine Ausnahme zu sein, denn Ihr seid eine Frau.«
»Was ist daran so
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