Die Medica von Bologna / Roman
bewegen, und kniete mit glühendem Kopf stundenlang über meinem Beobachtungsspalt, der mir den Blick in eine völlig neue Welt ermöglichte – in die Welt der Lehre und Forschung. Ich gewöhnte mich schnell an den Anblick geöffneter und zerstückelter Leichen und verfolgte atemlos, wie Professor Aranzio und Doktor Tagliacozzi sich in ihren Ausführungen über die Organe abwechselten. Ich erfuhr, dass die Lunge als paariges Atmungsorgan zu bezeichnen sei, welches den Brustraum beiderseits des Herzens einnehme, ich lernte, dass sie in ihrer Form durch das Zwerchfell und den Brustkorb bestimmt wurde und dass ihr rechter Flügel sich in drei, ihr linker sich dagegen nur in zwei Lappen unterteile, um dem Herzen genügend Platz einzuräumen.
Ich sah, wie Doktor Tagliacozzi mit seinen schönen, kräftigen Händen einen winzigen Schnitt in einen der Flügel machte, einen Strohhalm hineinsteckte und die zusammengefallene Lunge aufblies, um zu verdeutlichen, welch großes Volumen dieses Atmungsorgan hat.
Ich lernte vieles über die Leber, die ebenfalls in mehrere Lappen zerfällt, hörte, dass sie, gesund oder krank, keine Schmerzen bereite, was ihre Leiden besonders schwer erkennbar und tückisch mache, und staunte über die Verfärbung und die gewaltige Größe einer Trinkerleber im Gegensatz zu einer normalen.
Ich erfuhr, dass die Gallenblase, die in den Humoralschriften der alten Meisterärzte als Quelle des gelben und schwarzen Gallensafts bezeichnet wird, keineswegs als solche gelten könne, da die ihr zugewiesenen Säfte in der Leber produziert würden. Die Gallenblase selbst hingegen sei häufig Sammelplatz quälender Steine, die eine gelblich braune Farbe hätten und das Ausmaß kleiner Kiesel annehmen könnten.
Ich sah die Milz in ihren Konturen, ich staunte über die bohnenförmigen, braunroten Nieren und verfolgte ihre Leitungsbahnen zur Blase, ich sah die Bauchspeicheldrüse, den Magen und die unzähligen meanderförmigen Windungen des Darms.
Ich sah, wie Doktor Tagliacozzi Schnitt für Schnitt den Unterarm einer Leiche sezierte, hörte, wie er jede noch so kleine Maßnahme genau erläuterte, verfolgte wie gebannt einige Tage später dieselbe Prozedur bei einem Bein und wiederum etwas später die Öffnung eines Schädels.
Ich schaute wie mit Argusaugen zu, als Professor Aranzio und Doktor Tagliacozzi gemeinsam einen Leichnam öffneten, um herauszufinden, ob der Tote, der Opfer eines Überfalls geworden war, ertränkt wurde oder nicht, und empfand großen Stolz, als ich aus dem Vorhandensein von Wasser in der Lunge selbsttätig schloss, dass der Mann unfreiwillig zu Tode gekommen war.
Ich beobachtete, wie beide Gelehrte den unnatürlich verfärbten Körper eines Mannes öffneten, von dem man annahm, er sei vergiftet worden, sah zu, wie sie den Magen Schritt für Schritt freilegten und einen Teil davon herauspräparierten. Sie begutachteten die zutage getretenen Nahrungsreste, rochen daran und verfütterten sie, da sie nichts Ungewöhnliches feststellen konnten, an einen eigens zu diesem Zweck mitgebrachten Hund. Der Hund verschlang die Reste und legte sich wieder in eine Ecke, wo er die übrige Zeit der Lehrstunde friedlich vor sich hin döste. Da er den Mageninhalt der Leiche ganz offenkundig gut vertrug, lag der Beweis vor: Das Opfer war nicht vergiftet worden. Der Grund für das Dahinscheiden des Mannes musste ein anderer sein.
Und während beide Gelehrte weitere Untersuchungen vornahmen, um die wahre Todesursache zu erkunden, erfuhr ich, dass ihr spektakuläres Experiment zum ersten Mal im Jahre 1302 von dem Bologneser Stadtarzt Bartholomeo da Varignana an einem Mann namens Azzolino durchgeführt worden war, den man den »schwarzen Azzolino« nannte, weil sein Leichnam sich innerhalb weniger Stunden erst oliv und dann schwarz verfärbte, und ich erfuhr auch, dass in Azzolinos Fall tatsächlich eine Vergiftung vorgelegen hatte.
Dies alles und noch viel mehr wurde mir im Verlauf vieler Wochen vor Augen geführt, und jede Einzelheit war mir wie eine Offenbarung.
Nach jeder Lehrstunde hastete ich mit wehenden Röcken nach Hause und hatte, in der Strada San Felice angekommen, nichts Eiligeres zu tun, als das Gehörte und Gesehene sofort niederzuschreiben. Ich tat es sorgfältig und nach einem von mir selbst entwickelten Ordnungsprinzip: Alles, was mit den Organen zu tun hatte, behandelte ich für sich. Ebenso alles, was mit der Bewegung zu tun hatte, wie Muskeln, Sehnen und Bänder; alles, was mit
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