Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Medica von Bologna / Roman

Die Medica von Bologna / Roman

Titel: Die Medica von Bologna / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
heftig, meine Augen hatten Mühe, sich an das grelle Tageslicht zu gewöhnen.
    Dann, als ich wieder sehen konnte, sah ich sie: Ein Pulk von Studenten rannte die schmale Loggia entlang direkt auf mich zu, allen voran Marco. Ich sah sein aufgeregtes Gesicht, die Schweißperlen auf der Stirn. Und dann sah ich, wie seine Augen sich vor Schreck weiteten.
    Er hatte mich erkannt.
    Ruckartig blieb er stehen. Er drehte sich um, richtete sich zu voller Größe auf und stemmte sich seinen Kommilitonen entgegen, die mit geballter Wucht gegen ihn anrannten. Er strauchelte, wurde zurückgeschleudert, kam wieder hoch, warf sich ihnen erneut entgegen, wurde halb mitgerissen, getreten und gedrückt. Er wurde über die Brüstung gedrängt. Weit und immer weiter. Verzweifelt ruderte er mit den Armen, doch es war zu spät. Schreiend fiel er in die Tiefe und schlug mit einem dumpfen Laut auf. Seine Kommilitonen wurden plötzlich ganz still und starrten fassungslos hinab. Marco lag da, seltsam gekrümmt, einer verletzten Puppe gleich.
    Ein Zittern lief durch seinen Leib.
    Dann lag er still.

[home]
Teil 2
    Gaspare

Die Weste
    Il panciotto
    ch weiß nicht mehr, wie ich an dem Tag, als Marco starb, nach Hause kam. Ich weiß nur noch, dass ich wie von Furien gehetzt aus dem Archiginnasio hinauslief, in die kleine Seitengasse gelangte und fortan nur noch den leblos am Boden liegenden Marco vor meinem geistigen Auge sah.
    Das Ganze war wie ein Alptraum.
    Meine Erinnerung setzte erst wieder ein, als ich am Abend auf meinem Bett lag und an die Decke mit den verblassten Fresken starrte. Einstmals hatte ich sie betrachtet und im Fieberwahn die Figuren der Schöpfungsgeschichte sich bewegen sehen. Doch an diesem Abend hatte ich nur ein Gesicht vor Augen. Es war rund, um nicht zu sagen mondgesichtig, und es hatte einen Kinnbart – Marcos Gesicht. Nie wieder würde ich Marco sehen. Nie wieder würde ich Worte aus seinem Mund hören, nie wieder würde er mir grinsend Rosen schenken.
    Ich fing an zu heulen. Die ganze Tragweite dessen, was geschehen war, traf mich wie ein Faustschlag. Erst hatte ich meine Mutter verloren, nun war auch Marco gestorben. Ich war allein, hatte niemanden mehr auf der Welt. Stundenlang heulte und schluchzte ich vor mich hin, beklagte mein Schicksal, haderte mit meinem Leben.
    Meine Verzweiflung wurde nur noch übertroffen von meinem schlechten Gewissen. Marco hatte die Hutnadel vom Boden der
Scuola d’Aranzio
aufgehoben und sofort als die meine erkannt. Beides, die Nadel und sein Verdacht, dass ich mir mein medizinisches Wissen nicht nur durch die Bücher aneignete, hatte ihn augenblicklich zu dem Schluss kommen lassen, dass ich mich über ihm auf dem Dachboden befand. Geistesgegenwärtig hatte er versucht, Doktor Tagliacozzi, der Ähnliches gedacht haben mochte, abzulenken. Später war er seinen Kommilitonen vorangestürmt, um mich vor ihnen zu warnen. Er hatte sie aufzuhalten versucht. Und dann war er für mich gestorben.
    Und ich, ich hatte ihn niemals wirklich geliebt. Anders konnte es nicht sein. Warum sonst hatte ich es immer wieder insgeheim begrüßt, wenn sich unser Hochzeitstermin verschob? Welch ein schlechter Mensch ich doch war.
    Ich heulte weiter, und irgendwann in dieser Nacht klopfte es, und Signora Carducci, Marcos Mutter, stand vor der Tür. Sie war in Tränen aufgelöst und ebenso verzweifelt wie ich. Sie hatte die Todesnachricht erst in den Abendstunden erhalten und war zu mir geeilt. »Du weinst ja?«, rief sie, als sie mir in die Arme fiel. »Hast du die Nachricht etwa schon bekommen?«
    »Ja«, log ich und kam mir unendlich schäbig dabei vor. Aber was hätte ich sagen sollen?
    »Von wem denn, Kind?«
    »Von einem Kommilitonen.« Ich wandte mich ab, denn ich konnte der Frau, die niemals mehr meine Schwiegermutter werden würde, nicht ins Gesicht sehen.
    »Dann weißt du ja schon alles. Oh, wie furchtbar das ist! Was ist da im Archiginnasio nur vorgefallen? Man munkelt, jemand habe sich eingeschlichen, eine Frau, und man habe vergebens nach ihr gesucht. Welch ein Unsinn, eine Frau im Lehrsaal des Archiginnasios! Aber Marco, mein armer Marco, ist tot. Das kann nicht Gottes Wille sein! Es ist so unbegreiflich! Heute Morgen war er noch bei mir, fröhlich wie immer, und jetzt …« Signora Carducci sank auf mein Bett und schluchzte hemmungslos. Ich erkannte, dass ihr Schmerz viel größer, viel berechtigter als meiner war, denn sie war seine Mutter. Sie hatte nicht nur ihren Mann und ihre anderen Kinder

Weitere Kostenlose Bücher