Die Medica von Bologna / Roman
das mich bei nächster Gelegenheit auf der Straße verraten konnte, denn viele von Marcos Mitstudenten mussten es gesehen haben.
Und vielleicht auch Doktor Tagliacozzi.
Als ich mit meinen Grübeleien so weit gekommen war, überfiel mich große Ratlosigkeit. Natürlich konnte ich in Zukunft auch ohne Schleier auf die Straße gehen, aber das wollte ich auf keinen Fall – zu groß war mein Schamgefühl, zu groß auch meine Furcht, Verblendete wie Girolamo Menghi, der Hexenjäger, könnten meine
voglia di vino
als
voglia di peccato
auslegen und mich vor dem Tribunal der Inquisition anklagen. Signora Vascellini und ihre engstirnigen Freundinnen waren mir noch immer lebhaft in Erinnerung.
Die andere Möglichkeit war, nie wieder aus dem Haus zu gehen und bis an das Ende aller Tage ein Leben zwischen Küche und Kammer zu fristen. Aber das wollte ich auch nicht.
Die dritte Möglichkeit schien nicht besser als die beiden zuvor, sie war aber das kleinste Übel. Also stand ich auf und setzte die Idee in die Tat um. Ich nahm den Feuerhaken von der Wand und fachte die Flammen im Herd kräftig an. Dann holte ich mein Barett mit dem Schleier, mein Nibelungenkleid und meine Zimarra und warf einen letzten Blick auf die mir liebgewordenen Stücke, bevor ich sie verbrannte.
Auch die nächsten Tage waren für mich eine Qual, nicht nur wegen meiner Schuldgefühle, sondern auch, weil Signora Carducci noch zweimal auftauchte, um ihren Schmerz mit mir zu teilen. Wahrscheinlich betrachtete sie mich nach wie vor als ein »gutes Mädchen«, aber ich sah mich ganz anders. Meine Lügereien ihr gegenüber, meine Heucheleien, meine ständig vorgetäuschte Unwissenheit – alles das führte dazu, dass ich mir selbst verachtenswert vorkam und um ein Haar die ganze Wahrheit ausgeplaudert hätte. Doch ich tat es nicht. Heute würde ich vielleicht anders handeln, aber damals dachte ich, niemandem wäre mit der Wahrheit geholfen.
»Du kommst doch sicher morgen zur Beerdigung von meinem armen Marco«, sagte sie bei ihrem zweiten Besuch zu mir. »Ich habe schon mit Pater Edoardo geredet, er hat mir versprochen, eine bewegende Predigt zu halten. Ach, mein armer Marco …« Wieder brach sie in Tränen aus, und ich nahm sie wohl oder übel in die Arme. Sie tat mir leid, gewiss, aber ich war viel zu sehr mit mir und meinen Sorgen beschäftigt, um das Maß an Mitleid empfinden zu können, das sie verdient hatte.
»Ja«, sagte ich, »ich komme mit«, denn als Marcos ehemalige Verlobte musste ich natürlich dabei sein. Insgeheim aber hatte ich große Angst vor einer Begegnung mit Pater Edoardo, so große Angst, dass ich fieberhaft nach einer glaubwürdigen Ausrede suchte.
»Du bist ein gutes Mädchen«, sagte Signora Carducci.
Am Tag der Beerdigung kam mir ein Zufall zu Hilfe. Frühmorgens stand Schwester Marta vor meiner Haustür und sagte:
»Pax tecum,
Carla.«
»Friede sei auch mit dir«, antwortete ich.
»Wir haben die Nachricht erhalten, dass dein Verlobter zu Tode gekommen ist, und möchten dir unser aufrichtiges Beileid aussprechen. Die Wege des Herrn sind unerforschlich.«
»Ja«, sagte ich abwartend.
»Wir sind im Herzen alle an deiner Seite, doch wir glauben, dass du in deiner jetzigen Lage am besten bei uns im Kloster aufgehoben bist. Du solltest deine Arbeit im Hospital wieder aufnehmen und den Herrn loben.«
»Ja«, sagte ich abermals.
»Gleich heute. Die Mutter Oberin schickt mich, dich mitzunehmen.«
»Ist es sehr dringend, ich muss zur …?«
»Wenn die Mutter Oberin um etwas bittet, ist es immer dringend, das weißt du doch.«
»Natürlich«, erwiderte ich und fühlte grenzenlose Erleichterung. Der Ruf von Mutter Florienca war wie ein Befehl, dem ich nur allzu gern folgen wollte. Für Signora Carducci, die mich bei der Trauerfeier vermissen würde, hatte ich nun eine unangreifbare Entschuldigung.
»Ich komme«, sagte ich.
»Alles im Leben hat auch sein Gutes«, sagte die Mutter Oberin eine halbe Stunde später zu mir. Sie saß mit gefalteten Händen hinter ihrem Schreibtisch und schaute mich aus ihren großen, klugen Augen an. »Wo Leid ist, ist auch Licht. Vielleicht ist dein Marco abberufen worden, um dir Gelegenheit zu geben, mit Gott die Ehe einzugehen?«
»Ja, vielleicht, Ehrwürdige Mutter«, sagte ich. Ich saß ihr gegenüber und wusste nicht, wohin mit meinen Händen.
»Du kannst es dir in Ruhe überlegen. Gottes Landschaft ist voller Vielfalt, manchmal tut sich überraschend ein Weg auf, der vorher
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