Die Medizinfrau
als Untersuchungstisch diente. Nachdem sie gegangen waren, drehte sie den Docht der Petroleumlampe höher und stellte sie auf einen Stuhl neben die Pritsche. Dann bereitete sie warmes Wasser.
»Sie sind wirklich Ärztin, was?« Der Mann klang skeptisch. Olivia kannte diesen Tonfall.
»Ja. Wollen Sie meine Diplome sehen?«
»Au!« Er schnitt eine Grimasse, als sie mit einer Pinzette Glassplitter aus dem Gesicht entfernte. »Au! Das tut weh.«
»Wenn Sie es vorziehen, einen Raum durchs geschlossene Fenster zu verlassen statt durch die Tür, Mr. Danaher, werden Sie sich daran gewöhnen müssen, daß man Ihnen Glassplitter aus dem Gesicht zieht.«
»Au!«
»Schon passiert. Das war der letzte, denke ich.«
Olivia sah seinen Blick über den angeschlagenen Metallschrank gleiten, der ihre sorgfältig beschrifteten Arzneien enthielt: Laudanum, Brechwurz, Kampfer, Kalomel, Digitalis, Chinin, Morphium, Arnika, Phenol und viele andere. Das Emailwaschbecken neben dem Metallschrank war ebenfalls abgestoßen.
»Das ist nur eine provisorische Praxis.« Sie hatte das Bedürfnis, die Schäbigkeit der Einrichtung zu verteidigen. »Ich bin nur aus New York zu Besuch, um mich ein paar Monate um eine Freundin zu kümmern.«
»Hmmm.«
»Mr. Talbot war so freundlich, mir die Einrichtung zur Verfügung zu stellen. Halten Sie jetzt bitte den Kopf still.«
Er zuckte zusammen, als ihre Finger sein Kinn berührten. »Ich dachte, Sie sind fertig.«
»Nur mit den Glassplittern. Seien Sie nicht so wehleidig, Mr. Danaher. Ich will mir nur Ihre Pupillen ansehen. Der Beule nach zu schließen, haben Sie einen ordentlichen Schlag auf den Kopf gekriegt.«
»Nicht nur einen.«
Sorgfältig untersuchte sie die Pupillen beider Augen.
»Warum haben Sie sich geprügelt?«
Er überlegte, dann verzog er den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Hatte grade nichts Besseres zu tun.«
»Halten Sie Raufereien unter erwachsenen Männern für eine sinnvolle Beschäftigung?«
»Es gibt Schlimmeres.«
»Tatsächlich?« entgegnete sie schnippisch. »Drehen Sie den Kopf zur Seite.«
Olivia konnte nicht umhin, seine kantigen Gesichtszüge und den Einschnitt am kräftigen Kinn wohlwollend zu bemerken. Abgesehen von der Tatsache, daß dieser Mr. Danaher ein Taugenichts war, war er ein ausgesprochen attraktiver Mann. Im Gegensatz zu den vielen Bergarbeitern, Holzfällern und Erzarbeitern, die in der Stadt herumliefen, war ihr Patient rasiert – und sauber, bis auf den Straßenstaub und dem Blut von der Schlägerei.
»Vermutlich haben Sie eine Gehirnerschütterung, Mr. Danaher. Deshalb haben Sie das Bewußtsein verloren. Fühlen Sie sich schwindlig?«
»Ein bißchen.«
Seine Augen waren von einem Grün, wie sie es noch nie gesehen hatte, und die Art, wie er sie ansah, empfand sie als sehr verwirrend.
»Ein bis zwei Tage werden Sie Schwindel und Übelkeit verspüren und sich möglicherweise übergeben müssen. Vermeiden Sie die nächsten Tage möglichst jede Anstrengung, dann sind Sie bald wieder gesund. Nun wollen wir uns mal ansehen, was sonst noch alles verletzt ist.«
Sein spöttischer Blick machte ihr die berufsbedingte Distanz schwer, als sie ihm das Hemd aufknöpfte. Sie entblößte seine Brust und musterte ihn mit kühlem Blick.
»Kein Grund zur Sorge, Mr. Danaher. Ich bin Ärztin.«
Seine Mundwinkel zogen sich zu einem Lächeln nach oben. »Ich mache mir keine Sorgen. Au!«
Ohne auf seinen Wehlaut zu hören, tastete sie den Brustkorb ab. »Offensichtlich macht uns hier aber etwas Sorgen.«
Ihre Untersuchung wurde von einem weiteren Ächzen begleitet. »Sie haben ein paar Rippen gebrochen.«
»Au! Wenn Sie schon wissen, daß sie gebrochen sind, könnten Sie doch aufhören, darauf herumzudrücken.«
»Ich berühre Sie kaum, Mr. Danaher. Ich lege Ihnen einen Verband an. Aber diese Rippen werden Ihnen noch lange zu schaffen machen. Vielleicht ist Ihnen das eine Lehre, sich in Zukunft nicht mehr auf Prügeleien einzulassen. Es ist wirklich eine Schande. Viele Menschen würden weiß Gott was geben, wenn sie einen so gesunden Körper hätten wie Sie, und Sie setzen Ihre Gesundheit durch Trinken und Raufen aufs Spiel.«
»Ist die Lektion gratis oder kommt die mit auf die Rechnung?«
»Ich erwarte weder für das eine noch das andere eine Bezahlung. Ich bin daran gewöhnt, Wohlfahrtsfälle zu behandeln.«
Allerdings war sie nicht daran gewöhnt, Patienten wie diesen Gabriel Danaher zu behandeln. Zwar kannte Olivia die männliche Anatomie
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