Die Medizinfrau
genau und hatte in ihrer Ausbildung männliche Leichen seziert und die Studienkollegen ihres Semesters enttäuscht, weil sie weder einen hysterischen Anfall erlitten hatte noch vor Verlegenheit aus dem Seziersaal geflohen war. Sowohl in Paris als auch in New York hatte sie männliche Patienten kostenlos behandelt – Betrunkene und Obdachlose, die sich keine ärztliche Betreuung leisten konnten – doch im Normalfall waren ihre Patienten Frauen und Kinder. Junge, gesunde Männer konsultierten männliche Ärzte. Einen kraftvollen Männerkörper zu untersuchen war eine neue Erfahrung für sie.
Eine neue aber auch äußerst verwirrende Erfahrung. Als junges Mädchen hatte Olivia beim Anblick eines jungen Mannes weder gekichert noch geseufzt wie ihre Schulkameradinnen in Miß Tatterhorns Mädchenpensionat. Das Medizinstudium hatte sie anschließend von jedem Rest schwärmerischer Faszination für das Männliche kuriert. Daher spürte Olivia die Hitze, die ihr bei der Untersuchung von Mr. Danahers makelloser Anatomie in die Wangen stieg mit einiger Verwirrung. Auch wenn er ›Abschaum‹ war, wie Amy ihn nannte, war die animalische Vollkommenheit seines Körpers eine beunruhigende Sinneserfahrung.
Olivia räusperte sich und sammelte ihre abschweifenden Gedanken. »Bleiben Sie sitzen, ich hole den Verband für Ihre Rippen.«
»Vermutlich wird das auch weh tun.«
Sie suchte im Metallschrank nach einer genügend langen Binde. »Ich habe Kinder behandelt, die sich nicht so angestellt haben wie Sie, Mr. Danaher.«
»Mein Vater sagte mir einmal, Schmerzen schweigend zu ertragen, mag zwar eine männliche Tugend sein, man ermutige damit aber auch seine Gegner, weiter auf einen einzudreschen.«
Olivia strafte ihn mit frostigem Blick. »Wenn Sie Schmerzen nicht ertragen können, sollten Sie Prügeleien meiden und sich nicht aus geschlossenen Kneipenfenstern werfen lassen.«
Sein Grinsen mißglückte zu einer schmerzlichen Grimasse. »Während der Prügelei spürt man nichts.«
In seiner Stimme lag ein Anflug von Selbstironie. Olivia hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Der Bursche hielt sich zweifellos für unwiderstehlich.
»Nur Geduld, Mr. Danaher. Es dauert nicht lang.« Sie setzte sich neben ihn, doch die Position war ungünstig.
»Stehen Sie bitte auf.«
Er stand auf.
»Halten Sie das Ende des Verbandes.«
Sie wickelte die Baumwollbinde um seine breite Brust, ohne auf sein gelegentliches Ächzen zu achten, wenn sie eine besonders empfindliche Stelle berührte. »Damit ist Ihr Brustkorb etwas geschützt, solange die Rippen heilen, aber Sie müssen sehr vorsichtig sein und dürfen keine falschen Bewegungen machen, bis die Schmerzen vorüber sind.«
Plötzlich schwankte er und griff haltsuchend nach ihren Schultern. Olivias Herz machte einen angstvollen Sprung.
»Tut mir leid«, murmelte er. »Mir wurde schwindelig.«
»Keine Ursache.«
Der Hauch seines warmen Atems und sein männlicher Duft beschleunigten ihren Puls. Es dauerte Sekunden, bevor sie wieder ruhig atmen konnte. »Der … der Verband sitzt fest, Mr. Danaher. Nehmen Sie wieder Platz.«
Er leistete keinen Widerstand, als sie ihn behutsam von sich schob und ihn stützte, um sich auf die Pritsche zu setzen. Sein gebräuntes Gesicht hatte einen grünlichen Schimmer. »Soll ich Ihnen eine Schüssel bringen?«
»Nein.«
»Dann legen Sie sich flach. Kann Sie jemand abholen?«
Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. »Nein.«
»Wie weit haben Sie nach Hause?«
»Eine Nacht und zwei Stunden bei Tageslicht.«
»Das halte ich für keine gute Idee.«
»Ich bin in schlimmerer Verfassung nach Hause geritten.«
Olivia schüttelte den Kopf.
Er warf ihr einen fragenden Blick zu, als seine normale Gesichtsfarbe zurückkehrte. »Keine Maßregeln?«
»Ich schlage nicht mit dem Kopf gegen eine Wand, wenn ich merke, sie gibt nicht nach. Sie sind ein eigensinniger Mann, Mr. Danaher. Und kein sehr kluger, wenn ich hinzufügen darf.«
Er lächelte. »Wie alt sind Sie, Frau Doktor?«
»Wie bitte?«
»Wie alt sind Sie? Ich habe darüber nachgedacht. Sie klingen wie sechzig, aber wenn Sie lächeln, sehen Sie aus wie fünfzehn.«
Olivia versuchte eine strenge Miene aufzusetzen, doch die Stunde mit dem Taugenichts hatte ihren Vorrat an Belehrungen aufgebraucht. »Mein Alter geht Sie nun wirklich nichts an.«
Er blickte sie weiterhin fragend an.
»Na schön. Ich bin sechsundzwanzig«, entgegnete sie patzig.
»Und gehen auf die Sechzig zu?«
Sie hob
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