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Die Medizinfrau

Die Medizinfrau

Titel: Die Medizinfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Carmichael
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krank?«
    »Es fing erst heute abend an.« Tränen tropften aus den stark geschminkten Augen der Mutter und hinterließen helle Spuren auf den gepuderten Wangen. »Seit ein paar Tagen ißt sie nichts. Weil sie Halsschmerzen hat, sagt sie. Doch heute abend bekam Amaryllis Fieber …« Die Kleine mit dem hübschen Blumennamen kämpfte gegen Danahers festen Griff an. Olivia war froh, daß der Mann ihr half. So klein das Mädchen auch war, ihre Mutter hätte sie nicht festhalten können.
    Eine kurze Untersuchung bestätigte Olivias anfänglichen Verdacht. Elkhorn würde wohl bald jeden Arzt brauchen, der in der Stadt aufzutreiben war, und die Bewohner würden es sich kaum leisten können, wählerisch zu sein. Das Kind hatte Diphterie.

Kapitel 3
    Im schwachen Schein der Petroleumlampe blickte Olivia auf ihre goldene Taschenuhr. Die Zeiger standen kurz vor Mitternacht. Sie klappte den Deckel zu und steckte sie in die Rocktasche. Hatte sie noch genügend Kraft, um sich auszuziehen? Es wäre wirklich vernünftiger, dachte sie erschöpft. Ihr marineblauer Sergerock und die weiße Leinenbluse klebten schweißnaß an ihr und rochen nach Desinfektionsmittel. Im Nachthemd würde sie besser schlafen – wenn sie es nur finden könnte.
    Sie öffnete den Schrank mit den weißen, gestärkten Arztschürzen. Kein Nachthemd. Auch nicht in einer der Schubladen mit den Handtüchern und Laken oder am Haken hinter der Tür.
    Wo hatte sie es nur hingeworfen, als sie sich heute morgen anzog? Nein, nicht heute morgen. Letzte Nacht war sie gar nicht ins Bett gekommen. Dann eben gestern morgen. Kein Wunder, daß sie herumstolzierte und nicht mehr klar denken konnte. Wo war das verdammte Ding bloß?
    Zum Teufel mit dem Nachthemd. Dann schlief sie eben im Unterkleid. Olivia zog Rock, Bluse und Korsett aus, faltete die Sachen ordentlich zusammen und legte sie über den Stuhl. Dann sank sie auf die Pritsche, die ihr seit dem Ausbruch der Diphterie als Nachtlager diente. Amy schickte jeden Tag frische Kleidung und einen Korb mit Brot und Käse vorbei. Die Mahlzeiten nahm Olivia im Hotel ein, wenn die Zeit es erlaubte, und nachts schlief sie in der Praxis. Die wenigen Stunden Schlaf, die sie sich jede Nacht gönnte, hätte sie bequemer im Gästebett der Talbots verbracht, doch sie wollte Amy um keinen Preis einer Ansteckung aussetzen.
    Olivia löschte die Lampe, schlüpfte unter die Decke und bemühte sich, Schlaf zu finden. Ihr Körper schmerzte vor Erschöpfung, aber in ihrem Kopf kamen die Bilder nicht zur Ruhe. Da war Joey Sandersons sommersprossiges Gesicht mit dem frechen Grinsen. Sein roter Haarschopf hatte in der Sonne geleuchtet, als sie ihm vor zwei Wochen vor Fords Süßwarenladen begegnet war. Vor zwei Stunden war sein rotes Haar dunkel und verschwitzt, seine Augen dumpf und angstvoll im fahlen Gesicht. Jetzt war er tot. Joey Sanderson, Melissa Banks, Chin Su Li aus dem Chinesenviertel, Aaron Campbell und ein halbes Dutzend anderer, deren Namen sie vergessen hatte. Eine Mutter und ihre beiden Söhne wurden innerhalb weniger Stunden dahingerafft. Eine andere Familie verlor drei Kinder in einer Woche. All die Verstorbenen hatte sie vor Augen. Sie waren einen grausamen Tod durch Ersticken oder an Herzversagen gestorben. Olivia hatte keine andere Möglichkeit, den Kranken zu helfen, als ihre Widerstandskräfte zu stärken und zu beten, daß ihr körpereigenes Immunsystem die Seuche besiegte. Die Medizin hatte in den letzten zehn Jahren große Fortschritte gemacht, doch Diphterie war nach wie vor eine grausame Krankheit. Sie hatte sich selten so hilflos gefühlt. Patienten mit einer starken Konstitution hatten die meisten Chancen, die Diphterie zu überleben; doch die Menschen, die sie um Hilfe baten, hatten keine stabile Widerstandskraft. Ihre Patienten hatten kein Geld, um die Rechnungen der beiden anderen Ärzte von Elkhorn zu bezahlen. Sie waren arme, ausgelaugte Berg- und Holzarbeiter und deren Kinder, die meist unterernährt in unvorstellbar unhygienischen Verhältnissen lebten. Diese Menschen raffte die Seuche schnell dahin.
    Olivia war dankbar, daß sie als Gast der Talbots in der Lage war, diese bedauernswerten Kranken kostenlos zu behandeln. Sie wünschte sich eine Art Zauber, der die Leidenden vor dem Tod bewahren könnte. Während ihrer medizinischen Ausbildung und in den zwei Jahren ihrer Tätigkeit als praktische Ärztin in New York hatte Olivia den Tod oft genug gesehen, um sich mit seiner Existenz abzufinden. Sie würde sich

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