Die Medizinfrau
Nächte in der Woche in einer Frauenklinik gearbeitet hatte, weitaus gefährlicher waren, als eine Straße vor einem Nachtlokal in Elkhorn.
Er würde auch nicht begreifen, daß sie als Ärztin verpflichtet war, einem Verletzten zu helfen. Für Sylvester war sie eine Frau, die sich die Medizin als Steckenpferd erwählt hatte.
»Bring Amy nach Hause!« entgegnete sie mit fester Stimme. »Dann kannst du wiederkommen und mir weiter Vorwürfe machen, wenn du willst.«
Sie hörte sein abfälliges Knurren, ohne es wirklich wahrzunehmen. Die Tür der Kneipe wurde aufgestoßen, und der Lichtschein fiel in das zerschundene Gesicht ihres Patienten, in dem die Herablassung und der Spott des Mannes im Gemischtwarenladen gewichen waren. Allem Anschein beschränkte Gabriel Danaher seine ungebetene Einmischung nicht nur auf Kritik an Damenhüten. Diesmal schien er allerdings an jemand geraten zu sein, der ihm statt mit Worten mit der geballten Faust die passende Antwort gegeben hatte.
Seine Lider flatterten, dann öffnete er die Augen und blinzelte sie ungläubig an. »Sie?«
»Mr. Danaher. Offensichtlich bin ich nicht die einzige, die Sie lästig findet.«
Er brummte und zog eine schmerzliche Grimasse. »Sie haben aber einen tüchtigen Schlag«, krächzte er heiser.
»Ich habe Sie nicht geschlagen, Mr. Danaher. Sie scheinen jemand beleidigt zu haben, der ein aufbrausenderes Wesen hat als ich.«
»He?«
»Sie haben sich geprügelt.« Mit einer Hand hielt sie ihm das Kinn fest, mit der anderen hob sie ihm ein Augenlid hoch. »Hmmm. Ich brauche mehr Licht.«
»Ich habe doch nur gesagt … daß der Hut …« Der Satz verlor sich in einem unverständlichen Gemurmel.
Olivia nahm plötzlich den veränderten Geräuschpegel wahr und hob den Kopf. Sie hatten Publikum bekommen. Ein Kreis von Männern hatte sich um sie geschart. Grinsend und blutig geschlagene Gesichter beugten sich über sie, weitere schauten über die Schwingtüren. Anscheinend fanden die Männer des Silver Pick Saloons die Szene auf dem Gehweg unterhaltsamer als die Vorgänge in der Kneipe.
»Würden zwei der Herren diesen Mann bitte in meine Praxis tragen?« Die Männer schauten sie unsicher an.
»Ich bin Ärztin. Dieser Mann ist verletzt. Meine Praxis ist nur ein paar Häuser weiter.«
»Ach ja!« krächzte eine rauhe Stimme. »Ich habe gehört, seit neuestem haben wir eine Ärztin in der Stadt.«
Einige Kerle lachten.
»Die Verletzungen dieses Mannes sind nicht zum Lachen.«
»Sie sollten sich die Hände an dem Kerl nicht schmutzig machen, Madam«, riet ein grobschlächtiger, bärtiger Kerl, der aussah, als habe er wochenlang keine Seife benutzt. »Der Kerl ist Dreck. Treibt’s mit den Indianern. Und außerdem ist er Ire.«
Olivia verlor die Geduld.
»Sie da!« Mit einem Blick, der schon manchen Mann eingeschüchtert hatte, der sich ihren Anweisungen widersetzen wollte, fixierte sie einen großen, jungen Burschen. »Sie helfen mir, ihn in meine Praxis zu schaffen.«
»Ähm … aber …«
»Zum Teufel, Madam!« unterbrach ein untersetzter, älterer Mann das Gestammel des Burschen. »Wir haben nichts dagegen, einen Mann in einem fairen Kampf umzuhauen, aber ich halte es für übertrieben, ihn bei einer Ärztin abzuliefern!«
Die Umstehenden pflichteten ihm mit verächtlichem Brummen bei.
Olivia beobachtete, wie die Augen des Iren zwischen ihr und den umstehenden Männern hin und her wanderten. Offenbar war er wieder zu Bewußtsein gekommen.
»Sind sie wirklich ein Doktor?« krächzte er.
»Ja.«
Er musterte sie mißtrauisch.
»Wäre ich kein Doktor, und würde mein Berufsfeld mich nicht verpflichten, allen verletzten Menschen Hilfe zu leisten, würde ich Sie liebend gern hier heraußen liegenlassen.«
»Ein Engel der Barmherzigkeit, wie?« Beim Versuch, auf die Beine zu kommen, stöhnte er und blieb auf dem Gehsteig hocken. »Vielleicht solltet ihr tun, was die Lady sagt, Leute. Ich denke nicht, daß sie mich noch schlimmer zurichtet, als ihr es getan habt.«
Nach diesem zweifelhaften Vertrauensbeweis hoben zwei Männer den Verletzten auf – einer hielt ihn unter den Achseln, der andere packte ihn an den Füßen – und trugen ihn den kurzen Weg zu Olivias Praxis. Die anderen Männer folgten. Sie hätten durch die Fenster gespäht und zugeschaut, wie Olivia ihren Patienten verarztete, doch sie verscheuchte die neugierigen Gaffer mit barschen Worten.
Den beiden Trägern gab sie Anweisung, den Verletzten auf die Pritsche zu legen, die ihr
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