Die Medizinfrau
da, die Holzfäller drangen tiefer in die Bergwälder ein, um Klafterholz zu schlagen, das im Winter in den Öfen und Kaminen der Bewohner verheizt wurde.
»Wenn es nur endlich mal regnen würde, daß der Staub gebunden wäre.« Amy hielt sich den Schal vor den Mund, als ein Fuhrwerk an ihnen vorbeiratterte und eine dichte Staubwolke aufwirbelte.
»Bald bekommen wir Schnee, keinen Regen, Liebste.« Sylvester hob den Blick in den stahlblauen Himmel. »Du hast noch keinen Winter in Montana erlebt. Glaube mir, du wirst aufatmen, im Frühling den blauen Himmel wiederzusehen.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Aber du und das Baby, ihr werdet es warm und gemütlich in unserem schönen Haus haben.«
»Ja, Sylvester.«
Olivia seufzte.
Das Haus der Talbots lag am unteren Ende der Stadt, in der Nähe der Erzmühle, in der Sylvester geschäftsführender Partner und Hauptinvestor war. Der Weg vom Grand Hotel führte durch die Stadt. Die Luft war kalt und glasklar. Mit energischen Schritten ging Olivia an Fords Süßwarenladen, der Elkhorn Handelsgesellschaft und dem Schulhaus vorbei. Ihre Lungen hatten sich mittlerweile an die dünne Höhenluft gewöhnt. Dann blieb sie vor einem kleinen Haus stehen, das noch vor zwei Wochen eine halbverfallene Hütte war. Nun war es ausgebessert, frisch gestrichen, hatte Glasfenster und hübsche Vorhänge bekommen.
Sylvester und Amy, die ein wenig zurückgeblieben waren, blieben neben ihr stehen.
»Es sieht sehr hübsch aus«, meinte Amy.
»Ja, wirklich. Und das Schild, das Mr. Rivers gemalt hat, gibt ihm den letzten Schliff.« Olivia dankte Sylvester mit einem Lächeln. »Es war wirklich sehr großzügig von dir, mir eine Arztpraxis einzurichten, Sylvester.«
»Das ist das Wenigste, was ich tun konnte«, entgegnete er und fuhr überschwenglich fort: »Deine Freundschaft bedeutet Amy so viel, und du hast die lange Reise von New York hierher auf dich genommen, um ihr in ihrer schweren Zeit beizustehen. Da du sieben Monate bleiben willst, und Amy mir sagte, wie gern du arbeitest, wollte ich dir einen Arbeitsplatz einrichten, an dem du deine Interessen verfolgen kannst.«
Amy stimmte ihm begeistert zu. »Ich bin sicher, daß du viele Patienten haben wirst, sobald die Bewohner von Elkhorn begreifen, daß du eine hervorragende Ärztin bist.«
Sylvester lächelte gönnerhaft auf seine Frau herunter. »Nun, Amy, vergiß nicht, daß wir bereits zwei Ärzte in Elkhorn haben.«
Amy hob eine Augenbraue. »Ich bezweifle, daß einer von ihnen in Paris an der École de Médicine studiert hat.«
Olivia lächelte. Schon in ihrer Jungmädchenzeit, als beide das vornehme Mädcheninternat von Miß Tatterhorn besuchten, hatte Amy sie vehement verteidigt. Und ihr Beschützerinstinkt war oft gefordert, da Olivia den Unterricht in Kunsterziehung und Musik häufig vernachlässigte, um naturwissenschaftliche Bücher zu studieren, die ihr ihre Freundin und umschwärmtes Idol, Dr. Mary Putnam, schickte – seit ihrer Heirat mit einem deutschen Kinderarzt Dr. Mary Putnam-Jacobi. Olivias Ehrgeiz, Medizin zu studieren, hatte sie bei ihren Lehrerinnen und Schulkameradinnen unbeliebt gemacht. »Ich bezweifle, daß die Kollegen in Elkhorn gezwungen waren, bis nach Paris zu reisen, um eine Stelle als Assistenzarzt an einer Klinik zu bekommen, Amy. In unserem Land gibt es hervorragende Kliniken, an denen Ärzte ihr Praktikum absolvieren können. Doch nur wenige dieser Einrichtungen nehmen weibliche Ärzte auf, wenn sie es aber doch tun, dann nur eine begrenzte Anzahl. Das war der einzige Grund, warum ich in Paris studiert habe.«
»Ach, Unsinn! Du bist nach Paris gegangen, weil Miß Tatterhorn dich zwang, französisch zu lernen!«
Die Frauen lachten, doch Sylvester runzelte mißbilligend die Stirn.
»Amy, Liebes, ich glaube nicht, daß eine derartige Ausgelassenheit in deinem Zustand angebracht ist.«
»Aber Sylvester, ich bitte dich. Jetzt ist Olivia bei mir, und ich bin sicher, daß alles gut gehen wird.«
Im Weitergehen lächelte er Olivia hilflos an. »Olivia ist mit Sicherheit eine gute Ärztin, Amy. Aber mir wäre wohler, wenn wir … vielleicht … einen Mann … vielmehr … die Meinung eines zweiten Arztes einholen würden.«
Amys Fröhlichkeit war wie weggeblasen. »Ich will mich nicht von einem Mann untersuchen lassen, Sylvester.«
»Das weiß ich, Liebling. Du bist eine empfindsame Frau. Aber Dr. Cahill ist ein sehr guter Arzt.«
»Längst nicht so gut wie Olivia!«
Olivia mischte sich
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