Die Medizinfrau
eine Augenbraue. »Und wie alt sind Sie, Mr. Danaher? Dreißig und gehen auf die Dreizehn zu?«
»Vierunddreißig. Und im Augenblick fühle ich mich, als werde ich morgen siebzig.«
»Sie sollten die Nacht im Hotel bleiben, statt in die Berge zu reiten, wo immer Sie wohnen.«
»Wir sind beide eigensinnig.« Er setzte sich auf. Sofort verfärbte sich sein Gesicht wieder grünlich.
»Bleiben Sie wenigstens so lange liegen, bis Sie aufstehen können, ohne die Gesichtsfarbe zu wechseln«, schlug Olivia vor.
Vorsichtig ließ er sich auf die Pritsche zurücksinken und schloß die Augen. »Ich kann ja noch ein wenig warten.«
Olivia legte eine Decke über ihren Patienten und stellte die Lampe auf den kleinen Schreibtisch in der Ecke des Behandlungszimmers. Es gab keine Krankenblätter, die sie hätte studieren können. In der Woche seit der Eröffnung ihrer Praxis war nur eine Patientin gekommen – Rosie, eine Tänzerin aus der Lucky Lady Bar.
Sie setzte sich und betrachtete Gabriel Danaher, der mit geschlossenen Augen dalag. Bald gingen seine Atemzüge langsam und gleichmäßig. Seine Lider mit erstaunlich langen, dunklen Wimpern flatterten in der ersten Traumphase. Der eigensinnige Ire war eingeschlafen; sein Körper wußte besser als sein Verstand, was er brauchte. Die Muskelstränge an seinem Hals entspannten sich, und seine Augenbrauen waren nun nicht mehr gewohnheitsmäßig zusammengezogen. Eines seiner langen Beine rutschte von der schmalen Pritsche. Nicht einmal der dumpfe Aufschlag seines schweren Stiefels vermochte ihn zu wecken.
Nach einer Stunde kämpfte Olivia schwer gegen den Schlaf an. Sie fixierte den Mann, als übe er einen hypnotischen Zauber aus – seine dunklen Augenbrauen, den leichten Schwung seines Mundes, der noch im Schlaf einen spöttischen Zug zu haben schien, das dunkle krause Brusthaar, das aus dem Verband quoll.
Es war nicht ihre Art, einen Mann mit solcher Offenheit zu betrachten, und einen Patienten so neugierig zu mustern, war höchst unprofessionell. Eigentlich durfte sie die Nacht nicht allein mit ihm verbringen, andererseits sollte ein Patient mit einer Gehirnerschütterung nicht allein gelassen werden. Sie mußte ihn wecken und seine Pupillen noch einmal untersuchen, ob sich keine Komplikationen eingestellt hatten.
Olivia wollte gerade aufstehen, als sie ein leises Klopfen an der Tür hörte.
Danaher war sofort wach. Der laute Aufschlag seines Stiefels, als ihm das Bein von der Pritsche gerutscht war, hatte ihn nicht geweckt, aber das leise Klopfen ließ ihn hochfahren. Seine rechte Hand schnellte an die Hüfte nach der nicht vorhandenen Pistole.
»Mr. Danaher, um Gottes willen, legen Sie sich hin.«
Er schüttelte verwirrt den Kopf.
»Es klopft nur jemand an der Tür.«
Olivia öffnete einer Frau, bei deren Anblick wohl jeder Mann aus dem Schlaf hochgefahren wäre. Sie trug ein enganliegendes Spitzenkorsett zu einem roten Seidenrock, der ihr kaum bis zu den Knien reichte. Haarfarbe und Lippenrot paßten zur Farbe des Rockes, und die prallen Brüste im engen Mieder waren rosig gepudert.
Die Frau musterte den Mann auf der Pritsche mit berufsmäßig abschätzendem Blick, bevor sie sich unsicher an Olivia wandte.
»Sind Sie die Ärztin?«
»Ja.«
»Rosie schickt mich. Sie gaben ihr vor ein paar Tagen ein Pulver für ihren Magen. Sie sagt, Sie seien freundlich zu ihr gewesen, obwohl Sie eine Frau sind.«
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
Das dick geschminkte Gesicht entspannte sich. »Nicht mir. Meiner Kleinen. Sie ist sehr krank.« Die Frau wandte sich in den dunklen Flur und zerrte ein sich sträubendes Kind nach vorn. Das etwa fünfjährige Mädchen war mager und verdreckt. »Keiner der echten Ärzte ist bereit, einen Blick auf die Kleine zu werfen, nur weil ich Bartänzerin bin.«
Olivia trat vor, um das Kind an der Hand zu nehmen. Doch die Kleine schlug schreiend nach ihr. Ihre Augen waren starr vor Angst.
»Ich halte sie.« Der Ire schob Olivia zur Seite und hob das wild um sich schlagende Kind hoch und trug es zur Pritsche.
»Halten Sie die Kleine fest«, befahl Olivia ihm unnötigerweise, denn er hielt bereits die kleinen Fäuste und die strampelnden Füße fest. Er ging sanft und sicher mit ihr um – erstaunlich sanft für einen Mann, der sich prügelte, wenn er nichts Besseres zu tun hatte.
Olivia legte der Kleinen die Hand auf die glühendheiße Stirn. Trotz der kühlen Novembernacht war sie in Schweiß gebadet.
»Wie lange ist sie schon so
Weitere Kostenlose Bücher