Die Medizinfrau
Streichholz seine Fingerkuppen, und er atmete hörbar.
Die Gestalt auf der Pritsche bewegte sich. Gabe atmete langsam aus. Er mußte also nicht bis zum Morgen warten, um mit der Frau Doktor zu sprechen.
»Doktor Baron.«
Sie kroch tiefer unter die Decke.
»Doktor Baron.« Gabe rüttelte sie behutsam an der Schulter. Sie schrak hoch, richtete sich kerzengerade auf und blickte verwirrt um sich.
»Immer mit der Ruhe, Doc. Ich bin’s nur.« Er entzündete die Lampe, deren Flamme gespenstische Figuren aus Licht und Schatten durch den Behandlungsraum warf. Die Ärztin saß blinzelnd auf der Pritsche, sie schien noch nicht ganz wach zu sein. Die Decke war heruntergerutscht und enthüllte ein tief ausgeschnittenes, spitzenbesetztes Mieder, das die Ansätze ihrer Brüste freigab. Wer hätte gedacht, daß diese prüde, zugeknöpfte kleine Person unter ihren Kleidern feminin wirkte?
Allmählich vermochte Olivia klar zu sehen und zu denken. »Du meine Güte!« Sie griff nach der Decke und zog sie bis zum Kinn hoch.
»Sind Sie endlich wach, Doc? Erinnern Sie sich an mich?«
Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.
»Gabriel Danaher. Sie haben mich vor einiger Zeit verarztet. Der irische Raufbold und Taugenichts. Erinnern Sie sich?«
»Ja. Ja, natürlich erinnere ich mich.« Es gelang ihr nur mit Mühe, sich zu fassen. Nervös strich sie sich das offene Haar aus dem Gesicht, das in fülligen Locken bis über die Schulter fiel. Nicht nach hinten gebürstet und zum Knoten gebunden, wirkte es gar nicht langweilig braun, im Lichtschein hatte es einen rötlichen Schimmer. Sie schien jetzt ruhiger, obgleich sie die Decke immer noch krampfhaft bis unters Kinn gezogen hielt. Ihre Gefaßtheit bemerkte er mit einiger Anerkennung.
»Was tun Sie hier mitten in der Nacht, Mr. Danaher?«
»Ich brauche einen Arzt.«
Ihr Blick wurde prüfend. »Sind Sie krank?«
»Nein. Meine Mädchen sind krank. Sehr krank.«
Sie seufzte tief. »Ich zieh mich an und komme mit Ihnen.« Pflichtschuldig drehte er ihr den Rücken zu. Die Pritsche quietschte. Kleider raschelten.
»Sie können sich wieder umdrehen, Mr. Danaher. Im Mietstall habe ich einen Einspänner. Ich hole meine Arzttasche.«
»Wir können nicht mit der Kutsche in die Berge fahren. Sie müssen mit mir reiten.« Er drehte sich um. Nun stand sie wieder steif und zugeknöpft vor ihm. Sogar das Haar hatte sie in der kurzen Zeit im Nacken geknotet.
»Wo sagten Sie, wohnen Sie?« fragte sie unsicher.
»Etwa einen Tagesritt oben am Thunder Creek.«
Ihre Schultern sackten nach vorn. »Ein ganzer Tagesritt. Das ist unmöglich, Mr. Danaher.«
Enttäuschung vernichtete seine Hoffnung. Für ein paar Minuten hatte er geglaubt, sie sei anders als die beiden Quacksalber. Wut stieg in ihm hoch. »Was ist bloß mit euch los? Steht irgendwo geschrieben, daß ihr nur Kranke behandelt, die nicht weiter als eine Stunde entfernt wohnen? Oder vielleicht lohnen zwei Halbblut-Indianerinnen die Mühe nicht?«
»Reden Sie keinen Unsinn, Mr. Danaher. Ich …«
»Katy und Ellen liegen im Sterben. Und in dieser Stadt kümmert sich kein einziger Arzt darum!«
Ihre Stimme wurde scharf. »In dieser Stadt sind in den letzten Wochen viele Menschen gestorben, und es werden noch mehr sterben. Es gibt drei Ärzte am Ort, und jeder von uns hat seit einer Woche kaum geschlafen und gegessen. Keiner von uns hat Zeit, die Stadt zu verlassen, um irgendwo in den Bergen zwei Patienten zu betreuen, wenn uns hier zehnmal so viel brauchen. Bringen Sie Ihre Mädchen zu mir in die Praxis, Mr. Danaher, und ich tue gern alles für sie, was in meiner Macht steht. Aber ich kann und darf andere Patienten nicht vernachlässigen.«
»Sie würden den Ritt nicht überstehen. Sie müssen mit mir kommen.«
Sie stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Es tut mir leid, Mr. Danaher. Ich vermute, sie haben dieselbe Krankheit, die in der Stadt grassiert, zumal Sie bei mir waren, als das kleine Mädchen in die Praxis kam. Ich kann Ihnen Medizin mitgeben und Ihnen aufschreiben, was Sie tun müssen, mehr kann ich nicht tun. Ich habe drei Patienten zu versorgen, die ich auf keinen Fall allein lassen darf.«
»Es gibt zwei andere Ärzte in der Stadt, an die sich diese Leute wenden können. Meine Mädchen haben niemand außer mir.«
»Dr. Cahill und Dr. Traleigh sind mit Patienten überlastet. Sie können nicht …«
Er griff nach der emaillierten Waschschüssel und schleuderte sie gegen die Wand. Laut scheppernd fiel sie zu
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