Die Medizinfrau
aber wohl nie daran gewöhnen, ein Kind sterben zu sehen.
In Gedanken an Joey Sandersons bleiches Sommersprossengesicht sank sie endlich in einen erschöpften Schlaf.
Gabriel Danaher war nur ein schwarzer Schatten in der dunklen Nacht. An die rauhen Holzplanken des Mietstalls gelehnt, blickte er düster die Hauptstraße von Elkhorn entlang. Er drehte den Kopf, und der fahle Schein des Halbmonds beleuchtete sein Gesicht. Die irische Großspurigkeit, die Olivia Baron so gestört hatte, war gewichen; nun war sein Gesicht von tiefen Falten der Erschöpfung gezeichnet. Die Augen, die über die schlafende Stadt wanderten, verengten sich in zorniger Bitterkeit.
Aus der Unbeweglichkeit geriet Gabe plötzlich in einen Wutausbruch. Fluchend schlug er die Faust gegen die Holzplanken. Sein Arm schmerzte bis in die Schulter hinauf. Er empfand diesen Schmerz beinahe als Genugtuung in seinem Haß. Im Stall wieherte ein Pferd.
»Verfluchte Heuchler! Quacksalber! Zur Hölle mit euch beiden!«
Ihm kam die Galle hoch. Was sollte er bloß tun? Nach fast drei schlaflosen Nächten konnte er kaum noch klar denken. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zurück in die Berge zu reiten und Katy und Ellen sterben zu sehen.
Gabe stapfte mit schweren Schritten in den Stall und entzündete eine Laterne. Seine kastanienbraune Stute Longshot wieherte ihm zur Begrüßung entgegen.
»Die Schufte kommen nicht«, eröffnete er ihr, während er Decke und Sattel auflegte. »Keine Zeit. Zu erschöpft. In Wahrheit scheren sie sich einen Dreck um zwei Halbblutbälger!« Er lehnte die Stirn gegen die Schulter der Stute, deren warmer Pferdegeruch ihn ein wenig tröstete. »Dreihundert Dollar hab’ ich dem alten Cahill geboten. Als er nicht darauf einging, schlug ich ihm vor, seinen Preis selbst festzulegen. Der Hundesohn wollte trotzdem nicht kommen. Und der andere Quacksalber, dieser Traleigh, ließ mich nicht mal ausreden. Schlug mir die Tür vor der Nase zu.«
Longshot schnaubte laut, als wolle sie ihm ihr Mitgefühl ausdrücken. Gabe schüttelte den Kopf. »Ich muß etwas tun. So kann ich nicht nach Hause reiten. Nun laß dir was einfallen, verflucht nochmal!«
Wie zur Antwort sah er ein Bild vor sich. Ein ernstes, schmales Gesicht unter einem lächerlichen Hütchen. Hände, die einen Verband anlegten.
»Wollen Sie meine Diplome sehen?« hatte sie gefragt.
Er hatte sie gewähren lassen. Was für eine Ausbildung brauchte man schon, um ein paar Glassplitter zu entfernen und ein paar gebrochene Rippen zu bandagieren? Er brauchte einen richtigen Doktor für seine Mädchen, nicht eine unscheinbare graue Maus, die den Männern ins Handwerk pfuschte.
Aber die Ärzte weigerten sich, mit ihm zu kommen. Und welche Frau würde sich bereit erklären, mit einem Mann einen ganzen Tag in die Berge zu reiten, den sie für einen Raufbold und Taugenichts hielt?
»Wollen Sie meine Diplome sehen?« Olivia Barons Worte dröhnten in seinem erschöpften Kopf. Sie war eine Art Doktor. Er tätschelte der Stute den Hals. »Warte auf mich, mein Mädchen. Ich habe noch etwas zu erledigen.« Er würde nicht zulassen, daß ihm noch ein Arzt eine Absage erteilte.
In vereinzelten Fenstern brannte noch Licht. Auch in Olivia Barons Praxis. Gabe erwartete keineswegs, sie dort zu finden. Es war schließlich nach Mitternacht. Sie würde im Hause der Talbots schlafen. Der Gedanke an Frau ›Doktor‹ Baron, die wohlig im Federbett schlief, während in Elkhorn eine Epidemie wütete, bestärkte Gabe in seinem Vorhaben. Wenn die gute Frau Doktor am Morgen in ihre Praxis käme, würde bereits ein Patient auf sie warten.
Die Tür des kleinen Hauses war versperrt, wie er vermutet hatte. Ein schmales Seitenfenster war leicht geöffnet, doch es würde sehr mühsam sein, seine breiten Schultern durchzuzwängen. Das würde er erst versuchen, wenn er keinen anderen Einschlupf fand. Lautlos schlich er ums Haus, spähte immer wieder zur Straße, ob zu dieser Stunde noch jemand unterwegs war. Als er die Klinke der Hintertür lautlos herunterdrückte, stellte er erstaunt fest, daß sie sich öffnen ließ. Miß Baron sollte vorsichtiger sein.
Gabe schloß die Tür hinter sich und rieb ein Streichholz an. Im schwachen Schein erkannte er Schreibtisch, Schrank, Waschbecken und die Pritsche, auf der er gelegen hatte. Gabe erstarrte. Dort lag jemand. Rock und Bluse waren ordentlich über die Stuhllehne gehängt. Es war die Gestalt einer Frau. Er stand eine Weile reglos. Dann verbrannte das
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