Die Medizinfrau
Pflicht war, jetzt da sie schon fast am Ziel war, Danahers Frauen die benötigte ärztliche Hilfeleistung zu gewähren? Noch in Elkhorn war sie ihren Patienten verpflichtet und fest davon überzeugt, es sei richtig, Danahers Wunsch abzulehnen. Doch nun, da er ihr seinen Willen aufgezwungen hatte, durfte sie ihre eigene Sicherheit über die Bedürfnisse zweier schwerkranker Frauen stellen?
Andererseits war Danaher ein ehrloser Schurke und Raufbold, gewalttätig, unberechenbar und jähzornig. Sie sollte die Flucht ergreifen.
Doch seine Indianerflittchen, wie Amy sie genannt hatte, waren menschliche Wesen, und sie waren krank. Die höchste Pflicht eines Arztes bestand darin, menschliches Leiden zu lindern. An diesen Grundsatz hatte Olivia sich bislang strikt gehalten. Durfte sie aus Angst davonlaufen?
Ein plötzliches Rascheln hinter ihr ließ sie ihr Dilemma vergessen. Sie wirbelte herum, und alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Keine drei Meter entfernt stand ein Indianer in Beinkleidern aus Wildleder, einem zerschlissenen Wollhemd und Cowboystiefeln. Er beäugte sie wie ein Fuchs eine fette Henne. Zwei zerfledderte Federn zierten das verfilzte Haar, das ihm bis zur Schulter reichte. Seine schwarzen Augen waren kalt wie die einer Schlange; ein grausames Grinsen verzog seinen Mund.
Der Wilde kam auf sie zu, und Olivia schrie.
Kapitel 4
Olivias Schrei zerriß die Morgenstille. Gabe ließ den Streifen Trockenfleisch fallen, an dem er herumsäbelte und hechtete durch das Gestrüpp mit einer geladenen Pistole. Er teilte das Gewirr der Zweige. Und beim Anblick, der sich ihm bot, blieb ihm das Herz stehen.
Der Schwarzfußindianer, der Olivia gegenüber stand, bestätigte Gabes schlimmste Befürchtungen. Er kam zu spät.
Bei Gabes Erscheinen rannte Olivia mit einem erstickten Schrei auf ihn zu. Der Schwarzfußindianer blieb wie eine Statue stehen.
Gabe fing Olivia auf, die an ihm vorbeistürmen wollte, und hielt sie in seiner Armbeuge fest. »Schnell weg! Das ist ein … ein …« Sie zitterte wie ein verängstigtes Reh.
»Ich sehe, wer er ist. Beruhigen Sie sich.«
Er redete den Schwarzfuß in seiner Sprache an, die aus Minnies Mund so melodisch geklungen hatte. Doch seine Worte klangen eher holprig. »Sie sind also gegangen. Deshalb bist du hier.« Er hatte sie verloren, ohne daß er sich von ihnen verabschieden konnte.
»Sie sind nicht gegangen, Pferdegänger.«
Ein Stein fiel Gabe vom Herzen.
»Aber es geht ihnen sehr schlecht. Viel schlechter. Besonders Weiße Stute ist sehr krank. Ich machte mir Sorgen, warum du nicht mit dem Doktor zurückkommst und so lange fortbleibst. Eichhornfrau hält Wache bei deinen Töchtern, und ich machte mich auf die Suche nach dir.« Der Indianer warf Olivia einen fragenden Blick zu.
»Diese Frau ist der Doktor«, erklärte Gabe. »Einen anderen habe ich nicht gefunden.«
»Eine Medizinfrau?«
»Das behauptet sie.«
Der Schwarzfuß nickte zustimmend. »Es ist gut, daß du sie bringst. Wir müssen uns beeilen, sonst gehen deine Töchter zu ihrer Mutter ins Dorf der Toten. Ich hoffe, die Medizin dieser Frau wird schnell wirken.«
»Ich werde sie dazu bringen«, antwortete Gabe grimmig.
Olivia schaute von einem zum anderen, während Gabe und der Wilde sich in einer unverständlichen Sprache unterhielten. Gabe hatte seine Pistole in den Halfter zurückgesteckt, was sie als Zeichen nahm, nicht sofort abgeschlachtet und skalpiert zu werden. Die seltsame Unterhaltung endete, und beide Männer betrachteten sie mit einem Ausdruck, der ihr die Haare zu Berge stehen ließ. Sie entzog sich Gabes Griff, nur um festzustellen, daß der Indianer ohne Gabes beschützenden Arm wesentlich bedrohlicher wirkte.
»Kennen Sie diesen Indianer?«
»Er ist mein guter Freund und Bruder Krummer Stab.«
Danahers Freund. Sie hatte sich ganz schön zum Narren gemacht, hatte geschrien wie am Spieß und sich in Danahers Arme geworfen.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Krummer Stab.«
Der Indianer nickte feierlich. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß bei dem Gedanken, sich so kindisch aufgeführt zu haben. Nicht, daß sie es hätte wissen können. Er hatte sich ihr nicht unbedingt freundschaftlich genähert. Und selbst heutzutage, da die meisten Stämme in Reservationen untergebracht wurden, waren die Geschichten und Zeitungsartikel, die man über Indianer hörte und las, nicht dazu angetan, sie als friedliche Verbündete zu sehen.
»Er sagt, Katy und Ellen geht es viel
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