Die Medizinfrau
frei.
»Sieh zu, daß deine Medizin wirkt, Großmaulfrau.«
»Großmaulfrau?«
Krummer Stab grinste. »Aus deinem Mund kommen viele Schimpfworte. Er muß sehr groß sein, um so viele Worte zu fassen.«
»Nun ich …«
»Ich warne dich. Katy und Ellen sind die einzigen noch lebenden Enkelkinder von Eichhornfrau. Wenn sie sterben, wird sie dir und sich selbst die Haare ausreißen.«
»Wenn Eichhornfrau so sehr um das Wohlergehen ihrer Enkeltöchter besorgt ist, hätte sie ihnen raten sollen, im Reservat zu bleiben, statt mit einem sittenlosen Weißen herumzuziehen, der ihnen das sündige Leben der Weißen zeigt und ihnen ihre Krankheiten überträgt.«
»Viele Worte, Großmaulfrau, die keinen Sinn ergeben.«
Olivia schnaubte verächtlich und ging weiter. An der Tür blieb sie noch einmal stehen, um den beiden Indianern eine weitere patzige Antwort zu geben. Doch die beiden waren verschwunden. Die kastanienbraune Stute und der Wallach lauschten mit gespitzten Ohren im Unterholz.
Olivia blinzelte und murmelte: »Unhöfliche Leute.«
Das Innere der Hütte war verraucht und dunkel. Geschlossene Fensterläden schirmten das Sonnenlicht ab. Die Holzscheite im offenen Kamin verbreiteten mehr Qualm als Wärme. Neben dem Feuer standen zwei Pritschen. Danaher stand zwischen ihnen und blickte auf die Gestalten, die darauf lagen. Die Trauer in seinem Gesicht war mitleiderregend. Wie unkonventionell und unmoralisch seine Beziehung zu diesen Frauen auch sein mochte, er liebte sie. Einen Augenblick lang erwärmte sich Olivias Herz für ihn.
»Hier muß dringend gelüftet werden, Mr. Danaher. Öffnen Sie die Läden. Die Kranken brauchen frische Luft.«
Er hob hoffnungslos sein finsteres Gesicht.
Olivia warf einen ersten Blick auf die Kranken, deretwegen sie in die Berge verschleppt worden war – und erschrak zutiefst. Diese bleichen kleinen Gesichter waren Kindergesichter. Was für ein verdorbener Unmensch war dieser Gabriel Danaher?
»Aber das sind ja noch Kinder!«
»Was zum Teufel haben Sie denn gedacht?«
Sie stotterte entrüstet, fand aber keine Worte, um ihren Abscheu für einen Mann zum Ausdruck zu bringen, der sich an Kindern verging. Danaher begriff langsam.
»Sie dachten … mein Gott! Ihr sittenstrengen Damen der Gesellschaft habt eine besonders schmutzige Fantasie. Diese Kinder sind meine Töchter.«
Hitze schoß in Olivias Wangen. Seine Töchter. Natürlich. Was Amy ihr auch erzählt haben mochte, diese Mädchen waren viel zu jung, um irgend etwas anderes zu sein. »Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Danaher. Man sagte mir … es ist …«
»Nicht der Rede wert.« Sein Mund wurde zu einem schmalen Strich. »Als ich sie verließ, waren sie wach und klagten über Schmerzen. Jetzt ist kaum noch Leben in ihnen.«
Er hatte recht. Die Kinder lagen bleich und leblos in ihren Betten, nur ihre Atemzüge gingen schwer. Sie bewegten sich nicht einmal, als Danaher sie behutsam streichelte. Ihr Vater glaubte sie hoffnungslos verloren. Doch Olivia gab nicht so schnell auf. Besonders junge Menschen verfügten über einen unglaublich starken Lebenswillen.
»Ich muß sie untersuchen, Mr. Danaher. Öffnen Sie die Läden und tun Sie etwas gegen diesen fürchterlichen Rauch, wenn Eichhornfrau sich von dieser Behandlung auch etwas verspricht. Kein Wunder, daß sich ihr Zustand verschlechtert hat.«
Danaher öffnete die Fensterläden, stocherte im Feuer herum, und Olivia spürte seine Blicke im Rücken, als sie sich über die Mädchen beugte. Argwöhnische Blicke während einer Untersuchung waren nichts Neues für sie – alle weiblichen Ärzte mußten mit diesem Mißtrauen leben. Doch Danahers prüfende Wachsamkeit jagte ihr einen Schauer über den Rücken. In seiner Verzweiflung wirkte der Mann noch gefährlicher. Ihre Untersuchung bestätigte, was sie befürchtet hatte
- Danahers Töchter hatten Diphterie. Die Epidemie hatte die Berge erreicht und zwei weitere Opfer gefordert. Beide Patientinnen wiesen die typische fibrine grau-weißliche Membranbildung im Rachenraum auf, die starke Schluck- und Atembeschwerden verursachte. Bei der einen waren Kehlkopf und Rachenhöhle stark geschwollen
- ihr Zustand war bedenklicher als der ihrer Schwester. Die Herztöne waren allerdings kräftig und regelmäßig, und Olivia wagte zu hoffen, daß die Krankheit das Herz noch nicht angegriffen hatte.
Als sie sich aufrichtete, prallte sie mit Danaher zusammen.
»Tut mir leid.« Er hielt ihre Schultern fest und half ihr, das
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