Die Medizinfrau
Gleichgewicht wiederzufinden.
Olivia streifte hastig seine Berührung ab. »Mr. Danaher, ich kann nicht arbeiten, wenn Sie mir wie ein Schatten auf Schritt und Tritt folgen.«
»Wie steht es um sie …?«
»Ihre Töchter sind sehr krank. Ich will ganz offen mit Ihnen sein. Doch es gibt Hoffnung, denke ich. Im Augenblick kann ich nicht sagen, welche Überlebenschancen sie haben. Die Medizin hat die Ursachen der Diphterie noch nicht erforscht. Die bekannten Behandlungsmethoden sprechen oft nicht an. Ich kann ihnen nur helfen, ihre Abwehrkräfte zu stärken, um die Krankheit zu besiegen.«
»Die Kinder haben einen starken Willen.« Seine Stimme klang belegt. »Jedes auf seine Weise.«
Olivia folgte seinem bekümmerten Blick. Die Mädchen waren Zwillinge, das erkannte sie erst jetzt. Sie war so intensiv mit der Untersuchung beschäftigt, daß ihr die frappante Ähnlichkeit nicht aufgefallen war. Hübsche Mädchen mit ovalen Gesichtern und hohen Wangenknochen. Beide hatten tiefschwarzes, volles Haar, das jetzt stumpf und verschwitzt an ihnen klebte. »Es ist gut, wenn sie einen starken Willen haben, Mr. Danaher. Wir helfen ihnen zu kämpfen.«
Den Rest des Tages und die halbe Nacht verbrachte Olivia am Lager der Kranken. Es gab eine Reihe probater Behandlungsmethoden bei Diphterie. Manche Kollegen legten die Atemwege frei, indem sie den Schleim absaugten. Andere hielten den Kopf des Patienten nach unten und kitzelten den Rachenraum mit einer in Gänsefett getauchten Feder, damit der Patient den Schleim erbrach (diese Methode war bei Kindern leichter anzuwenden als bei Erwachsenen). Die Kollegen Cahill und Traleigh in Elkhorn schworen auf in Kalklösung gekochten Schwefelsud, den sie dem Patienten mit einer Pipette in die Nasenflügel träufelten.
Olivia war von keiner der Behandlungsmethoden überzeugt. Sie war der Ansicht, daß die Krankheit von gefährlichen Mikro-Organismen ausgelöst wurde. Solange diese Organismen nicht isoliert werden konnten und kein Gegengift gefunden wurde, bestand die erfolgreichste Behandlung ihrer Meinung nach darin, die Abwehrkräfte des Patienten zu stärken.
Die Zwillinge waren von ihrem Kampf gegen die Krankheit völlig geschwächt. Olivia kratzte zunächst den blockierenden schleimigen Belag mit einem in Phenol getauchtes Messer ab. Dadurch verschaffte sie den Kindern vorübergehende Erleichterung beim Atmen, doch der Schleim würde sich rasch nachbilden und die Atemwege erneut blockieren. Solange die Erleichterung anhielt, flößte sie ihnen eine leichte Brühe ein und half ihnen beim Schlucken, indem sie ihnen sanft die Kehle massierte. Die Brühe war von Eichhornfrau aus einer Kräutermischung zubereitet und roch unangenehm. Woraus auch immer das Gebräu bestand, es schien die Kranken ein wenig zu kräftigen. Am Nachmittag wirkten die Zwillinge schon kräftiger, sie beklagten sich über das bittere Zeug. Olivia wertete dies als erstes Anzeichen der Besserung »Wie geht es Ihnen?« Die Tür fiel hinter Danaher ins Schloß. Den ganzen Tag war er ein- und ausgegangen, unfähig das Leiden seiner Töchter mitanzusehen und gleichermaßen unfähig, sich fernzuhalten.
»Sie sind wieder bei Bewußtsein. Sie spucken das Gebräu aus, das Eichhornfrau gekocht hat. Dem Gestank nach kann ich es ihnen nicht verdenken.«
Danaher roch daran. »Ulmenrindentee. Er schmeckt scheußlich. Aber die Indianer schreiben ihm Heilkräfte zu.«
»Ich glaube, einen Hühnerstall gesehen zu haben. Können Sie eine Hühnersuppe kochen? Das Schlucken fällt den beiden nicht mehr so schwer. Sie müssen etwas Nahrhaftes zu sich nehmen. Und machen Sie Feuer ohne Rauch bitte.«
Am Abend schluckten die Zwillinge mit großer Mühe Hühnerbrühe und blickten Olivia aus verschwommenen Augen an, die ebenso grün waren wie die ihres Vaters. Sie riefen nach ihm, und er setzte sich lange zu ihnen. Mit einem der Mädchen sprach er liebevoll, strich ihm zärtlich das feuchte Haar aus der Stirn, so daß Olivia kaum glauben konnte, daß er der Grobian war, als den sie ihn kannte. Die Zwillingsschwester neckte und verspottete er wegen ihrer Wehleidigkeit und Schwäche in einer für Olivia unerträglichen Art und Weise, doch das Kind schien darauf mit dem Vorsatz zu reagieren, gesund zu werden.
Am späteren Abend fielen die beiden gesättigt, gewaschen und warm eingepackt in einen leichteren und natürlicheren Schlaf. Sie hatten immer noch große Atem- und Schluckbeschwerden. Die Schleimschicht hatte sich wie erwartet
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