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Die Medizinfrau

Die Medizinfrau

Titel: Die Medizinfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Carmichael
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sie viele Nächte durchwacht hatte, war sie vermutlich noch nicht mitten in der Nacht entführt und zu Pferd in die Berge verschleppt worden. Obgleich sie aussah wie eine zimperliche Gouvernante, hatte die Frau Mumm in den Knochen, das mußte er ihr lassen. Und sobald sie die Hütte betreten hatte, schien sie ehrlich um das Wohl der Zwillinge besorgt. Sie hätte sie untersuchen und sagen können, ihr Fall sei hoffnungslos. Oder sie hätte nach kurzer Behandlung von ihm verlangen können, sie zurückzubringen. Nein, sie hatte sofort die Pflege der kranken Kinder übernommen.
    Gabe selbst war todmüde. Eigentlich wollte er seinen Hocker neben Olivias Stuhl rücken, um näher bei den Zwillingen zu sein, aber er war zu müde, um aufzustehen. Nur die Sorge um seine Kinder hielt ihn noch wach. Er würde erst wieder schlafen können, wenn er mit Sicherheit wußte, daß die Zwillinge durchkamen … An die zweite Möglichkeit wollte er nicht denken. Wenn die Zwillinge starben, würde ein Teil von ihm mit ihnen sterben. Nach Minnies Tod hatte ihn sein Rachedurst am Leben erhalten – und die Notwendigkeit, sich um seine Töchter zu kümmern. Wenn die Zwillinge starben … wie sollte er sich an einer Krankheit rächen?
    Die Nacht zog sich endlos hin. Die Zeit bemaß sich an jedem rasselnden Atemzug, an jeder unruhigen Drehung von Katy oder Ellen. Zweimal wachten sie auf – beide zur gleichen Zeit. Olivia flößte ihnen warme Hühnerbrühe ein, säuberte sie, wenn ihnen bei dem Versuch zu schlucken, die Suppe wieder aus dem Mund lief. Gabe redete mit ihnen, wischte ihre Gesichter mit einem feuchten Tuch ab und erzählte ihnen, was sie alles gemeinsam unternehmen würden, sobald sie wieder gesund wären. Und als sie wieder einschliefen, blieben Gabe und Olivia bei ihnen sitzen und warteten.
    Kurz nach Mitternacht fiel ein Mondstrahl durchs Fenster und tauchte die Zwillinge in einen reinen weißen Schein. Reste irischen Aberglaubens sagten Gabe, daß sich alles zum Guten wenden würde. Seit der Rückkehr in die Hütte wagte er zum ersten Mal zu hoffen, daß Katy und Ellen wieder gesund werden würden.
    Die Ärztin gab sich weniger schwärmerischen Hoffnungen hin. Sie stand lediglich auf und machte die Fensterläden zu. Dann ließ sie sich herab und bat um einen Becher Kaffee, den sie mit einer angewiderten Grimasse trank.
    Eine Stunde später, nachdem die Zwillinge friedlich schliefen, verlor auch Olivia den Kampf gegen die Erschöpfung. Es gelang ihr zwar, aufrecht im Stuhl sitzenzubleiben, aber die vorgefallenen Schultern und der auf die Brust geneigte Kopf verrieten, daß sie eingeschlafen war. Gabe lächelte. Die Frau Doktor war also doch nicht so zäh, wie sie glaubte. Er trug sie behutsam auf sein Bett hinter dem Vorhang. Sie wachte auch nicht auf, als er eine Wolldecke über sie breitete. Im Schlaf wirkte sie jünger und weniger streng. Ihr Haar hatte sich aus dem Nackenknoten gelöst, und ihr Gesicht umrahmten weiche, dunkle Locken. Ihre dichten Wimpern lagen halbmondförmig auf ihren bleichen Wangen. Die dunklen Ringe der Erschöpfung verliehen ihr eine kindliche Verletzlichkeit. Gabe durchströmte eine Welle der Dankbarkeit, denn nun glaubte er fest daran, daß seine Kinder durchkommen würden. Olivia Baron war ihre Retterin, und dafür schuldete er ihr mehr, als er ihr je zu geben vermochte.
    Die Stunden dieser bangen Nacht schleppten sich mühsam dahin. Gabe saß neben den Zwillingen, nickte ein und fuhr bei jedem Stöhnen erschrocken hoch. Die Vergangenheit zog an ihm vorüber, und in dem flüchtigen Raum zwischen Wachen und Schlaf war er wieder mit Minnie vereint. Der Tag der Geburt der Zwillinge wurde wieder lebendig – wie hilflos er sich fühlte, aus dem Tipi verbannt, in dem Eichhornfrau und eine alte Hebamme seiner Frau in den Wehen beistanden. Der Aufruhr der Gefühle – Hilflosigkeit, Glück, Aufregung, Ehrfurcht, Ungeduld, Angst –, der in ihm tobte, hatte ihn krank gemacht. Die Männer hatten über ihn gelacht. Auch manche Frauen kicherten. Als die Geburt endlich vorüber war, und er seine zwei kleinen Mädchen – Zwillinge, wie Eichhornfrau es vorhergesagt hatte – in den Armen hielt, war er der stolzeste Mann auf der ganzen Welt. Minnie hatte gestrahlt wie die aufgehende Sonne, obwohl der Schmerz immer noch ihre matten Gesichtszüge überschattete, und ihre Hände geschwollen waren und bluteten, so krampfhaft hatte sie sich an den Pfahl geklammert, um während der Geburt aufrecht stehen zu

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