Die Medizinfrau
er sie beobachtete. Das Lächeln eines Engels, dachte Gabe, aus dem Herzen einer Löwin. Wie konnte er sie je mit einer kleinen grauen Maus verglichen haben?
Kapitel 5
»Sylvester, das bilde ich mir nicht ein. Es ist ihr bestimmt etwas zugestoßen. Gestern habe ich mir noch nichts dabei gedacht, als das Essen unberührt blieb. Sie macht ja den ganzen Tag Krankenbesuche. Aber heute war sie auch nicht in der Praxis und das Bett war unberührt, sagte Mrs. Grisolm. Allem Anschein war sie den ganzen Tag und die Nacht fort. Sie zog nicht einmal die frischen Sachen an, die ich ihr schicken ließ. Und ich kenne Olivia; selbst wenn sie vor Erschöpfung umfällt, wechselt sie die Kleider.«
Sylvester betrachtete seine Frau besorgt. In ihrem Zustand dürfte Amy sich nicht aufregen. Bei allem Verständnis, daß Olivia sich den Kranken verpflichtet fühlte, war er wütend auf die Frau, sich so verantwortungslos zu benehmen. Amy machte sich Sorgen. Dabei war innere Ruhe das Allerwichtigste in ihrem Zustand. Olivia kannte Amy lange genug, um das zu wissen und müßte alles daran setzen, der Schwangeren jede Aufregung zu ersparen.
»Sylvester, ich sehe es deinem Gesicht an, auch du denkst, es ist ihr etwas zugestoßen.«
»Nein, Liebste. Und ich flehe dich an, beruhige dich. Vermutlich ist Olivia bei einem Patienten geblieben, der ihre Pflege braucht. Du hast selbst gesagt, daß sie dazu neigt, alles um sich herum zu vergessen, wenn es um die Probleme anderer geht.«
»Das glaube ich nicht. Wenn sie bei einem Kranken wäre, hätte sie uns benachrichtigt. Sie würde nicht zulassen, daß wir uns um sie sorgen. Ich habe ein ungutes Gefühl, daß ihr etwas zugestoßen ist.«
Vermutlich war Amys ungutes Gefühl bedingt durch die Schwangerschaft, doch Sylvester nahm sich vor, Erkundigungen anzustellen, um sie zu beruhigen, obwohl er dafür eigentlich keine Zeit hatte. In der Erzmühle standen zwei Maschinen wegen zerrissener Treibriemen still. Die Arbeiter murrten wieder einmal wegen zu niedriger Löhne. Erst letzte Woche hatten zwei Leute sich entschlossen, lieber in die Berge zu gehen, um Silber zu schürfen, obgleich die großen Tage der Silbersuche hier in der Gegend längst vorbei waren. Und nun fehlten auch noch drei Männer wegen Krankheit. Er wurde dringend im Werk gebraucht. Und wäre er nicht so sehr um Amy besorgt, wäre er heute gar nicht zum Mittagessen nach Hause gekommen. Doch im Augenblick stand das Glück seiner Frau und die Gesundheit des Kindes, das sie unter dem Herzen trug, an erster Stelle. Olivia konnte nicht weit sein.
»Ich kümmere mich darum, Liebste. Aber du mußt mir versprechen, dich den ganzen Nachmittag auszuruhen. Mrs. Grisolm soll im Schlafzimmer Feuer machen, damit du es warm hast. Ich mache mir Sorgen wegen der Krämpfe, die du gestern hattest. Deine Freundin Olivia sollte sich mehr um dich kümmern, statt in der Stadt herumzulaufen, um Leute zu verarzten, mit denen eine wohlerzogene Dame sich gar nicht abgeben sollte.«
»Wirst du sie finden?«
»Natürlich finde ich sie.«
Doch Sylvester fand Olivia nicht. Seit ein paar Tagen hatte sie niemand mehr gesehen. Mr. Shriner meinte zwar, sie habe den Jungen der Sandersons behandelt, der vorgestern gestorben war, oder war es gestern? Er wußte es nicht genau. Beunruhigender war Dr. Traleighs ziemlich entrüstete Auskunft, ein gewisser Grub Wicker habe seinen Sohn zu ihm in die Praxis gebracht, weil Olivia nicht wie versprochen in seiner Hütte aufgetaucht war. Traleigh berichtete weiterhin, daß auch Dr. Cahill einige von Olivias Patienten wegen der Nachlässigkeit der Ärztin übernehmen mußte.
Den weitschweifigen Ausführungen des Doktors, wie ungeeignet Frauen für den Arztberuf seien, hörte Sylvester nur mit halbem Ohr zu. Er teilte allmählich Amys Besorgnis. Olivia Baron war allem Anschein nach aus Elkhorn verschwunden.
Was sollte er bloß tun? Er war Direktor einer Erzmühle, kein Detektiv. Amy würde sich furchtbar aufregen, wenn Olivia nicht bald auftauchte. Vermutlich sollte eine Suchmannschaft die Wälder durchkämmen, falls sie sich auf einem Spaziergang verirrt hatte. Eine solche Torheit traute er ihr zu. Schließlich kam sie aus New York.
Nach drei schlaflosen Tagen und Nächten des Wartens, Beobachtens und Hoffens, gratulierte Olivia sich stolz zu ihrem Sieg. Die Diphterie war auf dem Rückzug; beide Mädchen befanden sich auf dem Wege der Besserung. Sie entfernte den Schlauch aus Katys Luftröhre und nähte die Wunde
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