Die Medizinfrau
beobachtete das Mienenspiel der Zwillinge. Sie wollten ihr einreden, daß ihr Vater kein Heiratskandidat für sie sei, zugleich sollte sie sich bloß nicht für zu gut halten für den Mann, den beide vergötterten. Das Leben war recht verwirrend für Zwölfjährige. Auch mit sechsundzwanzig war das Leben noch sehr verwirrend, mußte sie gestehen.
»Mal angenommen, ihr spielt mir keine Streiche mehr, um mich zu überzeugen, daß ich mich bald verabschiede, und ich verspreche euch …«
»Still!« Katy hielt einen Finger an die Lippen. »Horcht! Was ist das?«
Olivia hörte erst nichts in der Stille der Nacht, doch dann war da was – ein leises Schaben an der Hütte. Ihr hämmernder Herzschlag schnürte ihr die Kehle zu. Sofort dachte sie an Bruno, den Bären.
»Redet weiter, als hätten wir nichts gehört«, befahl Katy. Ihr Gesicht hatte mit einem Mal einen Ausdruck angenommen, der nicht zu ihrem zarten Alter paßte. Olivia und Ellen stammelten sinnloses Zeug, während Katy das Gewehr von der Wand über dem Kamin nahm und prüfte, ob es geladen war.
»Kann man einen Bären mit einem Gewehr in die Flucht schlagen?« fragte Olivia.
»Kaum. Aber das ist kein Bär nich.«
»Woher weißt du?«
»Bären schleichen sich nicht an. Der alte Bruno stapft polternd in die Maultierkoppel, damit jeder weiß, daß er da ist.«
»Was ist dann …«
Lautes Klopfen an der Tür beantwortete Olivias Frage. Ihre Erleichterung, daß kein Bär draußen stand, wich der bangen Frage, wer sich um diese nächtliche Stunde in den Bergen herumtrieb.
Ellen wollte zur Tür.
»Nein«, hielt Olivia sie zurück. »Ich mach auf.«
»Warten Sie.« Katy öffnete den Deckel einer Kiste neben dem Kamin und nahm einen Revolver heraus.
Diese Hütte, stellte Olivia mit einigem Erstaunen fest, war das reinste Waffenlager.
»Nehmen Sie.« Katy reichte ihr die Waffe. »Und machen Sie ein entschlossenes Gesicht. Ich bin mit der Flinte direkt hinter Ihnen.«
Es klopfte wieder. Olivia öffnete die Tür. Der Mann draußen hatte die Statur eines Bären. Bei ihrem Anblick breitete sich ein Grinsen in seinem fleischigen Gesicht aus.
»Schön’ Abend, Frau. Sowas wie Sie erwartet man aber hier oben nicht. Ist Ihr Mann zu Hause?«
Olivia wünschte sich sehnlichst, ihr Mann – besser gesagt, der Herr des Hauses – wäre zu Hause. »Na ja, nein, im Augenblick nicht.« Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Katy sich ins Blickfeld des Fremden schob. »Aber er kann jeden Moment hier sein.«
»Kann ich mir denken. Eine Frau wie Sie würde ich jedenfalls keine Minute in dieser gottverlassenen Gegend allein lassen.«
»Er ist nicht weit. Ganz nah. Er kann mich … ähm … sogar hören, wenn ich rufe.«
»Na prima. Das Töchterchen?« Sein Blick ging zu Katy, die ihn finster anstarrte. »Kannst du denn schon mit der Flinte umgehen, Kleine? Es wäre jammerschade, wenn sie zufällig losginge.«
»Wenn sie losgeht«, versicherte Katy grimmig, »dann nicht zufällig.«
»Ich verstehe eure Vorsicht, aber ich und mein Kumpel, wir sind anständige Goldschürfer. Wir wollten nach Elkhorn, doch weiter unten, wo das Tal eng wird, ist eine Lawine abgegangen. Wir würden ja auf der anderen Seite durch die Todesschlucht absteigen, aber das ist ein harter Weg, und mein Kumpel hat ein kaputtes Bein. Ein Pferd hat ihn getreten vor einer Woche oder so.«
»Aber bitte, kommen Sie herein«, lud Olivia die beiden ein, ohne auf Katys warnendes Stirnrunzeln zu achten. Es war undenkbar für Olivia, den Männern kein Obdach zu gewähren, noch dazu, wenn einer von ihnen verletzt war. Und außerdem lag Schnee in der Luft.
»Dankeschön, Ma’am. Ich bin Jeb. Jebediah Crowe. Und der klapperdürre Kerl da drüben ist Slim McNab. Ich helfe Slim vom Gaul. Einen Becher Kaffee könnte unser Bauch gut vertragen.«
Die Bäuche der zwei Goldschürfer vertrugen eine Menge mehr. Als Olivia ihnen die Reste des Abendessens mit Brot anbot, machten sie sich mit Heißhunger darüber her und erklärten sie zur besten Köchin von ganz Montana.
»Die müssen halb verhungert sein«, flüsterte Ellen ihrer Schwester zu, gerade laut genug, damit Olivia es hören konnte.
Nachdem die Fremden gegessen hatten, untersuchte Olivia Slims Bein. Eine glatte Fraktur, die allerdings seit einer Woche nicht versorgt war. Die Knochenhaut war entzündet und stark geschwollen, außerdem hatte sich die Bruchstelle stark verschoben. Den Knochen einzurichten erforderte ziemliche Kraft, und Olivia wünschte sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher