Die Medizinfrau
Bewunderung zugehört, als sie erzählte, wie es ihr gelungen war, Backpulver in der Vorratskammer mit weißer Asche zu vertauschen, die auf diesem Umweg in Olivias Brötchen gelangte. Außerdem vermischte sie das Salz mit Asche, so daß der Teig ungenießbar war. Ellen hörte mit Genugtuung zu, wie die Beschimpfungen auf die hochnäsige Frau Doktor herunterprasselten, die mit hochrotem Kopf die Schmach über sich ergehen lassen mußte.
Doch nun bezahlte Ellen für ihre Schadenfreude, schlaflos starrte sie in die Nacht und fragte sich, welche Rache Olivia sich ausdenken würde. Dumm war sie ja nicht. Die Frau wußte mit Sicherheit, wer ihr das Abendessen verdorben hatte, auch wenn sie nicht genau wußte, wie geschickt die Übeltäterin vorgegangen war. Zweifellos würde sie Pa davon erzählen. Er würde Ellen übers Knie legen oder ihr einen langen Vortrag halten, daß bei ihm zu Hause die neun Geschwister allen Erwachsenen gehörigen Respekt entgegengebracht hatten, ob die es verdient hätten oder nicht. Wie sie ihren Pa kannte, war die Geschichte erlogen, weil er niemandem Respekt zeigte, der ihn nicht verdiente.
Immerhin, eine Strafpredigt war besser als eine Tracht Prügel. Nicht, daß Pa’s Schläge besonders weh getan hätten, aber sie war eigentlich schon zu groß, um übers Knie gelegt zu werden. Das war demütigend für eine junge Dame, die schon einen Haushalt führen konnte. Meist war Katy der Sündenbock und wurde bestraft, während Ellen in rechtschaffener Unschuld zuschaute. Ellen hatte keine große Lust, das Mißfallen ihres Vaters zu spüren.
Ellen verbrachte keine sehr ruhige Nacht vor dem Strafgericht, das sie erwartete.
Der Morgen begann ohne Zeichen der Vergeltung. Jebediah und Slim hatten sich im Morgengrauen auf den Weg gemacht, und Pa neckte die Frau Doktor, ihr schlechtes Essen habe die beiden verjagt. Olivia fauchte zurück, es sei ein Segen, endlich wieder im Schaukelstuhl schlafen zu können. Obwohl Ellen nicht wußte, ob sie meinte, Pa soll im Stuhl schlafen, oder ob sie den Stuhl für sich beanspruchte. Ellen gefiel der Blick ihres Vaters nicht, mit dem er die Frau anschaute, und die Frau Doktor hatte rote Wangen wie eine Bartänzerin. Ihr Pa sollte sich nicht über eine Dame aus dem Osten aufregen, noch dazu über eine alte Schachtel. Was konnte Ellen nur tun, um ihn davon zu überzeugen’, daß die Frau nichts taugte?
Doch an diesem Tag hatte Ellen andere Sorgen. Olivia hatte ihr zwar noch keine Vorhaltungen gemacht, aber das würde sicher noch kommen. Ellen überlegte, ob sie die Naive spielen und alles leugnen sollte. Vielleicht würde dann Katy übers Knie gelegt werden. Sie war schließlich daran gewöhnt.
Das Frühstück verlief friedlich – und schmeckte gut, weil Ellen es zubereitet hatte. Die Katastrophe vom Abend zuvor wurde mit keinem Wort erwähnt. Ellen glaubte allmählich, Olivia zögere die Folter absichtlich hinaus. Sie hatte der Frau nicht so viel Gemeinheit zugetraut. Andererseits hatte Ellen sich gestern abend auch ziemlich gemein benommen, und nun bekam sie die Rechnung.
Gegen Mittag hielt Ellen es nicht länger aus. Ihr Vater war nach dem Frühstück in die Mine gegangen, und Katy reparierte das Gatter der Maultierkoppel. Olivia und sie waren allein in der Hütte. Olivia hatte den Tisch mit Seifenlauge und einer Bürste geschrubbt und gemurmelt, daß ihre Hände für immer ruiniert wären. Doch nun schaute sie aus dem Fenster wie so oft in die Richtung, wo das Tal des Thunder Creeks sich verengte. Zwischen den Augenbrauen bildete sich eine senkrechte Falte, und ihr Blick war sehnsüchtig in die Ferne gerichtet. Ellen hielt den richtigen Zeitpunkt für gekommen. Die Sache von gestern abend mußte geregelt werden.
»Ah … Olivia?«
Die Frau drehte sich zu ihr um.
»Finden Sie … finden Sie es nicht langweilig, wenn die Leute immer Doktor Baron zu Ihnen sagen? Das klingt, als würden sie mit einem Mann reden.« Ellen hätte sich eine Ohrfeige geben können. Das wollte sie gar nicht sagen.
»Nein, eigentlich nicht. Als ich so alt war wie du, wollte ich schon Ärztin werden, und ich habe sehr hart gearbeitet, um mein Ziel zu erreichen. Wenn die Leute mich Doktor nennen, klingt das gut in meinen Ohren.«
»Aha.« Jetzt war es soweit. Die Frau machte ein erwartungsvolles Gesicht. »Warum wollten sie lieber Doktor werden als heiraten und Kinder kriegen?«
»Weil es mir Freude macht, kranken Menschen zu helfen. Und außerdem heißt das ja nicht, daß ich
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