Die Medizinfrau
aber sie stapfte gehorsam die Leiter zum Speicher hinauf. Langeweile war eben der Preis, den sie bezahlen mußte, um Olivia vor Angst schlottern zu sehen. Olivia war fest entschlossen, nicht zu schlottern, wenigstens nicht dann, wenn Katy sie sehen konnte.
Der Schachteingang lag keine fünf Minuten vom Haus entfernt. Unterwegs sprach Olivia sich Mut zu. Es war schließlich nur ein Stollen. Fels, Sand und Staub. Weiter nichts. Sie hatte eine Grubenlampe dabei, und Katy hatte ihr versichert, sie könne sich nicht verirren. Es war ein kurzer Schacht. Etwa hundert Meter lang, hatte Danaher einmal gesagt. Olivia hatte keine rechte Vorstellung davon, wie lange hundert Meter waren, hoffte aber inständig, daß es eine sehr kurze Strecke war.
Sie irrte. Hundert Meter zogen sich eine Ewigkeit hin. Es war noch keine Minute vergangen, nachdem sie in den dunklen Schlund der Mine eingetaucht war, und Olivias rasender Puls und ihre feuchten Hände schrien ihr zu, sie werde von der Erde verschluckt und nie wieder Tageslicht sehen. Der schwache Schein der Grubenlampe drang kaum in die Finsternis ein. Es herrschte stockfinstere Nacht. Vorwärts und rückwärts, oben und unten hatten keine Bedeutung mehr. Am liebsten hätte Olivia den Henkelmann mit Danahers Mittagessen weggeworfen und sich an die Felswand gepreßt. Wenn sie ihrer Angst nachgab, würde sie schlotternd an die Felswand gedrückt stehen bleiben, bis Danaher sie fand. Was für einen lächerlichen und demütigenden Anblick sie dann wohl bieten würde!
Sie ging weiter, atmete bewußt tief ein und aus, um ihre Panik im Zaum zu halten, und redete sich ein, ihre Vernunft sei stärker als ihre Angst. Es war schließlich nur ein staubiger, dunkler Schacht, weiter nichts.
Als sie endlich Danahers Grubenlicht sah, sein nicht sehr musikalisches Summen zwischen den Schlägen seiner Spitzhacke hörte, hatte sie das Gefühl, in die Hölle hinabgestiegen zu sein.
»Na sieh mal, wer da kommt! Haben Katy und Ellen Sie schließlich doch unter die Erde getrieben?«
Olivia konnte sich nicht erinnern, je dankbarer gewesen zu sein, eine menschliche Stimme zu hören. Sogar Danahers, nein, besonders Danahers Stimme. Sie setzte Lampe und Blechnapf ab. »Ich … ich bringe Ihnen das Mittagessen.«
»Sie keuchen wie nach einer Bergbesteigung. Was haben Sie gemacht? Sind Sie den ganzen Weg gelaufen?«
»Natürlich nicht. Ich … na ja, ich …«
»Kommen Sie, setzen Sie sich auf diesen Felsen.« Er nahm ihren Arm und setzte sie, kauerte sich neben sie und betrachtete sie prüfend im Schein der Lampe. »Sie stehen Todesängste aus, Doc. Ich kann Ihren Herzschlag bis hierher hören.«
Olivia war unfähig zu widersprechen. Ihr Puls dröhnte in den Ohren. Sie konnte ihre Angst förmlich riechen, die jeder Pore entströmte. Danaher würde sich lange über ihre Feigheit lustig machen.
»Warum zum Teufel sind Sie hier runtergekommen?«
»Katy … Katy …«
»Aha. Dachte ich mir, daß Katy dahintersteckt. Nachdem sie gesehen hat, wie bleich Sie gestern nach der Sprengung waren.« Er hob eine Augenbraue. »Ich hätte Sie für klüger gehalten, als sich von Katy aufs Glatteis führen zu lassen.«
Olivia seufzte. Ihr Pulsschlag beruhigte sich ein wenig, nur wegen Danahers beschwichtigender Stimme. »Ich habe mich schon klüger angestellt.«
Danaher nickte und lächelte, weder überheblich noch schadenfroh. »Ich hatte mal einen Freund – ein Riese von einem Iren – in den Docks von New York. In engen Räumen stand er Todesängste aus. Jedesmal, wenn er in einen Schiffsbauch hinuntersteigen mußte, bekam er Schweißausbrüche vor Angst. Irgendwann ging er gar nicht mehr runter und verlor den Job. Einer der tapfersten Leute, die mir je begegnet sind. Ich war Zeuge, als er einen Kumpel aus einer brennenden Kneipe holte, in die keiner sich mehr reintraute.«
Olivia schluckte und fragte sich, ob der Bauch eines Schiffes ebenso angsteinflößend war wie der Bauch der Erde. Die Dunkelheit kroch wieder auf sie zu.
»Ich esse heute draußen. Den vollen Karren muß ich auch rausschaffen.«
Der Karren war längst nicht so voll wie die anderen, die sie ihn aus dem Stollen hatte ziehen gesehen. Er wollte sie ins Freie begleiten, und dafür war sie ihm unendlich dankbar.
»Sie nehmen diese Lampe, ich nehme die andere, und den Henkelmann stellen wir in den Karren.«
Er band sich mit Lederriemen, die er sich über Brust und Schultern legte, vor den Karren. Katy hatte ihn ausgelacht, mit den Lederriemen
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