Die Medizinfrau
sehe er aus wie ein angeschirrtes Maultier. Für Olivia sah er aus wie ein rettender Engel. Sie erhob keinen Einwand, als er ihre Hand nahm und sie dicht neben sich zog. Langsam setzten sie sich in Bewegung, den ratternden Erzkarren hinter sich. Die Lichtkegel huschten vor ihnen her und verloren sich im Nichts. Das Schwarz war endlos, und Danahers Hand war ihr einziger Halt; ohne sie wäre sie in einen unendlichen Abgrund gestürzt.
Nach einer Ewigkeit überkam sie Schwindelgefühl, und sie mußte stehenbleiben. Sie konnte nicht dagegen ankämpfen, auch wenn sie sich zur Närrin machte. Die Felswände kamen auf sie zu, der schwarze Strudel des Entsetzens zog sie in die Tiefe.
»Olivia!«
Sie konnte Danahers Stimme kaum hören, sie wurde übertönt von dem ohrenbetäubenden Pochen ihres Herzschlags.
»Olivia – Herrgott! Sie sind eiskalt. Es kann Ihnen nichts passieren. Halten Sie sich an mir fest.«
Sie klammerte sich an die Lederriemen seines Geschirrs. Seine Arme umfingen sie und zogen sie an sich. Eine Hand fuhr ihr durchs Haar und drückte ihren Kopf in seine Schulterbeuge.
»Machen Sie die Augen zu.«
»Ich k-k-kann nicht.«
»Doch, Sie können.« Sanft legte er ihren Kopf an seine breite Brust. Sie schloß die Augen. Die Panik wurde durch die Wärme seines starken Körpers gemildert.
»Denken Sie an etwas Beruhigendes, etwas sehr Schönes.«
Sie stöhnte.
»Eine Sommerwiese. Blumen wiegen sich im Wind. Am blauen Himmel ziehen weiße Schäfchenwolken.«
Allmählich löste sich Olivias Verkrampfung, während sie sich auf das Bild konzentrierte, das er beschrieb. Seine Hand streichelte ihr zärtlich über den Rücken, so wie er seine Kinder tröstete, wenn sie Angst hatten.
»Ein Bach plätschert durch die Wiese. Und weit oben auf dem Hügel ist der Schnee noch nicht ganz geschmolzen. Dort liegen noch einige weiße Flecken, die von einer rötlichen Staubschicht bedeckt sind. Die Kinder nennen ihn Wassermelonenschnee, weil er nach Wassermelone riecht, wenn man ihn zerdrückt.«
Seine tiefe Stimme beruhigte sie und drängte ihre Angst zurück. Sie stand wie eine Löwenbändigerin mit Peitsche und Stuhl bewaffnet und hielt die Panik in Schach. Sie öffnete die Augen, löste sich von der sonnendurchfluteten Blumenwiese und dem Wassermelonenschnee und war wieder im dunklen Bauch der Erde im flackernden Schein der Grubenlampen. Sie sah den blauen Stoff von Danahers Hemd und die Lederriemen, die seine Brust kreuzten. Er verkörperte beruhigende, warme Muskelkraft. Seine Arme waren ein schützender Hafen, den sie nicht verlassen wollte, aber verlassen mußte, wenn sie dieser Hölle je entrinnen wollte.
Sanft löste sie sich von ihm. »Ich … es geht schon wieder. Danke.«
Seine prüfenden Augen funkelten schwarz. Kein Spott, keine Stichelei, keine Verachtung, keine Herablassung lagen in seinem Blick. Nur Besorgnis. »Geht’s wieder?«
»Ja.« Sie fühlte sich wesentlich besser, hatte aber den unerklärlichen Wunsch, wieder in seine starken Arme zu sinken. Sie war selten im Leben in die Arme genommen und getröstet worden. Immer war sie es, der die Rolle der Trösterin zukam. Erstaunlich, wie wohltuend sein Mitgefühl war. Erstaunlich, daß ausgerechnet Danaher dazu imstande war.
»Wir sind gleich draußen.«
»Gehen wir.«
Sie waren wesentlich weiter vom Tageslicht entfernt als Olivia lieb war, doch sie schaffte es, ihre Phobie im Zaum zu halten, bis sie den Schacht verließen. Nie waren ihr Sonnenlicht und Wind und das Rauschen der Fichten schöner erschienen. Am liebsten wäre sie auf die Knie gesunken und hätte ein Dankgebet zum Himmel geschickt. Doch sie hatte ihre Würde bereits genug strapaziert.
»Es tut mir leid, daß ich mich dort drin so närrisch benommen habe.« Schüchtern entzog sie ihm die Hand, da er keine Anstalten machte, sie freiwillig loszulassen.
»Es gibt keinen einzigen Menschen auf der Welt, der nicht vor irgend etwas schlotternde Angst hat.«
Danaher konnte sie sich freilich nicht in diesem Zustand vorstellen. Dann erinnerte sie sich an seine Verzweiflung, als Katy und Ellen dem Tode nahe waren. Sie war von seinem gütigen Verständnis im Schacht und von seinem indirekten Eingeständnis seiner eigenen Schwäche gerührt. In ihrem Bekanntenkreis wären nicht viele Männer zu einem solchen aufrichtigen Geständnis bereit. Von Gabriel Danaher hätte sie diese Geste schon gar nicht erwartet.
»Vermutlich haben Sie recht. Aber ich dachte nicht, daß ich in diesen Zustand
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