Die Mehrbegabten
Barnes auf, beachtete sie aber nicht. Wie die meisten Telepathen hatte er gelernt, die große Masse unausgegorener Gedanken der Menschen zu ignorieren: Feindseligkeit, Langeweile, offenen Widerwillen, Neid. Gedanken, von denen der Betreffende selbst viele gar nicht wahrnahm. Ein Telepath mußte sich eine dicke Haut zulegen. Im Grunde mußte er lernen, sich auf die bewußten, positiven Gedanken einer Person einzustellen, nicht auf das verschwommen definierte Gemisch seiner unbewußten, Prozesse. Auf diesem Gebiet stieß man nahezu auf alles mögliche… und bei nahezu allen. Jeder Angestellte, der vorbeikam, dachte flüchtig daran, seinen Vorgesetzten zu vernichten und sich an seine Stelle zu setzen… und manche zielten noch höher; es existierten phantastische Wahngebilde in den Gedanken einiger der am unterwürfigsten erscheinenden Männer und Frauen – und bei denen handelte es sich zum größten Teil um Neue Menschen.
Einige, die wirklich abnorme Gedanken verrieten, hatte er unauffällig in Kliniken gesteckt. Zum Wohle aller… und besonders dem seinen. Denn verschiedentlich hatte er schon Gedanken an Mord wahrgenommen, und aus den überraschendsten Quellen, kleinen wie großen. Einmal hatte ein Neumensch-Techniker, der in seinem Privatbüro TV-Anschlüsse montierte, längere Zeit erwogen, ihn zu erschießen – und er war sogar bewaffnet gewesen.
Immer wieder kam so etwas vor: ein endloses Thema, das zum Leben erweckt worden war, als die beiden Menschentypen sich vor fünfundachtzig Jahren zu erkennen gegeben hatten. Er hatte sich daran gewöhnt… oder doch nicht? Vielleicht nicht. Aber er lebte immer schon damit und glaubte nicht daran, daß er die Fähigkeit verlieren könnte, sich anzupassen – gerade jetzt, wo Provoni und seine nichtmenschlichen Freunde im Begriff waren, seinen Lebensweg zu kreuzen.
»Wie heißt doch gleich der Mann aus Wohnung 3XX 24J?« fragte er Barnes.
»Das muß ich erst feststellen.«
»Und Sie sind sicher, daß das Mädchen nicht seine Frau ist?« setzte er hinzu.
»Ich habe kurz Standaufnahmen von seiner Frau gesehen.
Dick, bösartig – eine Xanthippe, nach allem, was wir wissen, von den Bildaufzeichnungen her, meine ich.«
»Was macht er beruflich?«
Barnes starrte an die Decke, befeuchtete die Unterlippe und antwortete: »Er ist Reifenprofilschneider. Bei einem Gebrauchtflitzerhändler.«
»Was, zum Teufel, ist das?«
»Nun, sie nehmen einen Flitzer, und es stellt sich heraus, daß das Reifenprofil fast ganz abgefahren ist. Er nimmt ein Brenneisen und schneidet neue Rillen hinein.«
»Ist das nicht verboten?«
»Nein.«
»Aber jetzt«, sagte Grem. »Ich habe eben ein Gesetz erlassen; notieren Sie das. Reifenprofilschneiden ist ein Verbrechen. Es ist gefährlich.«
»Ja, Vorsitzender.« Er kritzelte auf seinem Block und dachte: Wir sind im Begriff, von fremden Wesen überwältigt zu werden, und Grem denkt an so etwas. Du meine Güte – Reifenprofilschneiden.
»Man darf im Gedränge der großen Probleme die kleinen nicht vergessen«, sagte Grem zu Barnes’ Überraschung.
»Aber zu einem solchen Zeitpunkt – «
»Machen Sie sofort ein Vergehen daraus«, fügte Grem wütend hinzu. »Sorgen Sie dafür, daß jede Gebrauchtflitzerfirma bis Freitag den gedruckten – wohlgemerkt: gedruckten -Text erhält.«
»Warum veranlassen wir die fremden Wesen nicht zur Landung«, fragte Barnes sarkastisch, »und lassen ihre Reifen von diesem Mann zerstechen, damit sie, wenn sie über den Boden dahinholpern, platzen und diese Wesen bei dem darauffolgenden Unfall umkommen?«
»Das erinnert mich an eine Geschichte über die Engländer«, sagte Grem. »Im Zweiten Weltkrieg machte sich die italienische Regierung schreckliche Sorgen um eine Landung der Engländer in Italien – mit Recht, übrigens. Man schlug also vor, in allen Hotels, wo Engländer wohnten, von ihnen weit überhöhte Preise zu verlangen. Die Engländer würden zu höflich sein, um sich zu beschweren, wissen Sie; statt dessen würden sie gehen – Italien ganz verlassen. Kennen Sie die Geschichte?«
»Nein«, meinte Barnes.
»Wir sitzen wirklich in der Patsche«, sagte Grem. »Obwohl wir Cordon getötet und die Druckerei in der 16. Avenue gestürmt haben.«
»Richtig, Ratsvorsitzender.«
»Wir werden nicht einmal in der Lage sein, alle Minusmenschen einzufangen, und die fremden Wesen könnten sein wie die Marsbewohner in Der Krieg der Welten von H. G. Wells. Sie werden die gesamte Schweiz mit einem einzigen
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