Die Meister der Am'churi (German Edition)
seiner Wunde ausging. Am liebsten hätte Ni’yo sich einfach hingelegt und geschlafen, aber er wusste, wenn er einmal in Heilschlaf fiel, würde ihn so schnell nichts wecken können und sie würden nicht vorwärtskommen. Also zwang er sich, die Augen offen zu halten. Schließlich hatte er schon oft genug gegen den Schlaf gesiegt!
Was, wenn Jivvin in Lyneas Armen das fand, was Ni’yo ihm nicht geben konnte? Jetzt, wo er fürchten musste, ihn zu verlieren, empfand er den Schmerz als unerträglich. Leichter hätte er sich einen Arm und ein Bein abschneiden können, als seinen Seelengefährten aufzugeben … Er wog das Holzfigürchen in der Hand, das die Bäuerin für ihn hinterlassen hatte.
Harla, Führerin der Verlorenen, wenn du Glück zu geben hast, dann lass ihn zu mir zurückfinden.
Wo bleibst du nur, Jivvin …
Und während er wartete, gegen die Schmerzen in seinem Körper und seiner Seele kämpfte, sich gegen den Schlaf wehrte und zu einer Göttin betete, deren Namen ihm kaum bekannt war, spürte er noch etwas anderes als Verlustangst und Trauer: eifersüchtige, neiderfüllte Wut auf die einzigen beiden Menschen dieser Welt, die er liebte.
~*~
Jivvin fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut, als er Ni’yos schlanke Gestalt am Ufer entdeckte. Was sollte er ihm bloß sagen?
Verdammt, Lynea, du machst mein Leben auch nicht gerade einfacher - scheint ein Familienfluch bei euch zu sein, dachte er. Dann seufzte er innerlich. Zu einem Flirt gehörten immer zwei. Zum Glück war nicht mehr geschehen!
„Können wir?“, fragte Ni’yo, als sie bei ihm angelangt waren. Seine Stimme klang angestrengt und er wandte sich mit einem kalten Blick schroff ab, als Jivvin die Hand nach ihm ausstreckte. Gewillt, sich nicht darüber zu ärgern – Ni’yo hatte jedes Recht dazu, sich so abweisend zu verhalten – blieb Jivvin friedlich und ließ ihn in Ruhe.
„Ich schicke mein Rudel voraus, in etwa einer Stunde schließe ich mich euch dann wieder an“, sagte Lynea und verschwand in Wolfsgestalt, bevor Ni’yo oder er etwas sagen konnten. Verdammt sei dieses Weib!
Schweigend marschierten sie durch die Finsternis in Richtung Tempel, jeder einzelne Augenblick schien sich bis in die Ewigkeit auszudehnen. Jivvin dachte über Dutzende Möglichkeiten nach, das unvermeidliche Gespräch zu beginnen, hoffte dabei die ganze Zeit, dass Ni’yo von sich aus anfangen würde. Doch sein Gefährte schritt vor ihm weg, ohne sich ein einziges Mal zu ihm umzudrehen.
Wenn er wenigstens fragen würde. Oder spotten. Oder mich zusammenschlagen. Irgendetwas anderes als still zu warten! Als er gerade soweit war, sich verlegen zu räuspern, tauchte Lynea plötzlich wieder auf. Zwar blieb sie in Wolfsgestalt, trotzdem biss Jivvin sich auf die Lippen und ertrug lieber weiterhin die Stille als sich noch mehr zu blamieren. Da das Gelände hier schwierig wurde, mit dichtem Unterholz und Luftwurzeln, die man allzu leicht in der Dunkelheit übersah, musste er sich auf das Laufen konzentrieren, was half, ihn abzulenken.
„Ni’yo?“ Jivvin zuckte zusammen, als Lynea sich unvermittelt zum Menschen wandelte und leichtfüßig zu ihrem Bruder lief. „Brauchst du eine Rast?“ Es dämmerte bereits, sie waren mehr als zwei Stunden ununterbrochen gelaufen. Erst jetzt fiel Jivvin auf, wie steif sich Ni’yo bewegte, und er verfluchte sich dafür. Warum nur war er so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er nicht gesehen hatte, wie erschöpft sein Gefährte sein musste?
„Es geht schon“, winkte Ni’yo ab. Jivvin kannte den Tonfall und diesen trotzigen Ausdruck in dem bleichen Gesicht.
„Nein, es geht nicht!“, sagte er deshalb sofort und packte ihn am unverletzten Arm.
„Du schläfst jetzt und in ein paar Stunden geht es dann weiter!“
Ni’yo befreite sich mit einem Ruck und setzte zu einer scharfen Erwiderung an, Zorn blitzte in seinen Augen. Doch Lynea hielt ihn auf.
„Du nutzt Am’chur nichts, wenn du vor Erschöpfung kaum aufrecht stehen kannst. Legt euch beide hin, ich halte Wache und wecke euch später.“
Ob nun Ni’yo zu müde für Widerspruch war oder Lynea genau den richtigen Ton angeschlagen hatte, er fügte sich jedenfalls widerspruchslos und suchte sich einen Platz unter einer Fichte, um dort seine Decke auszubreiten. Jivvin zögerte kurz, legte sich dann aber neben ihn, ihm zugewandt. Die angsterfüllte Hoffnung, die für einen Moment im Ni’yos Blick flackerte, traf ihn tief.
„Ich habe nicht mit
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