Die Meister der Am'churi (German Edition)
was innerhalb so weniger Minuten geschehen war, erschöpft von zu vielen widersprüchlichen Emotionen, die er durchlebt hatte.
„Ich war keine fünf Jahre alt, als meine Mutter eines Tages sagte, ich solle im Haus bleiben und mich nicht von der Stelle rühren, bis sie zurückkäme. Ni’yo sei in Gefahr, sie würde ihn in ein sicheres Versteck bringen. Ich dachte, ich würde ihn spätestens am nächsten Morgen wiedersehen; aber er sah so traurig aus, also habe ich ihm die Pfauenfeder geschenkt, mit der ich ihn immer geärgert hatte. Mein größter Schatz damals.“ Sie lachte und schluchzte zugleich.
„Ich war beinahe verhungert, als etliche Tage später – ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat – Schattenelfen zu mir ins Haus kamen. Sie trugen Leichen bei sich, viele Leichen. Eine davon war meine Mutter. Sie sah aus wie immer … zumindest ihr Gesicht.“ Sie löste sich mit einem Ruck von ihm und wischte sich energisch die Tränen fort.
„Die Elfen sagten, meine Mutter hätte all die anderen umgebracht, sie sei eine schlechte und böse Frau gewesen, die den Tod verdient hat. Und sie sagten auch, dass Ni’yo ebenfalls tot sei, sie seinen Körper allerdings nicht mitnehmen wollten, weil er noch viel böser und schlechter als unsere Mutter gewesen war. Aber sie gaben mir die Feder zurück. Sie war gebrochen und voller Blut – da wusste ich, Ni’yo muss tot sein. Sie wollten mich mitnehmen. Sie sagten, ich sei wichtig für ihr Volk, eine große Hoffnung, und sie würden gut auf mich aufpassen. Ich habe gebissen und getreten und um mich geschlagen und schaffte es irgendwie, ihnen zu entwischen. Gewiss, es war helllichter Tag … Sie suchten mich, doch ich war so gut versteckt, dass selbst die Elfen mich nicht finden konnten. Als es dunkel wurde, erschienen plötzlich Wölfe und verwandelten sich vor mir in einen Mann und eine Frau. Muria hatte sie geschickt, weil ein Kind es geschafft hatte, den Elfen zu trotzen, ein Kind, das sie bereits für sich hatte beanspruchen wollen.
Neunzehn Jahre lang dachte ich, Ni’yo sei tot. Aber dann zog im vergangenen Herbst diese riesige Gruppe von Elfen vorbei, mit zwei bewusstlosen Gefangenen, und einer davon trug Ni’yos Witterung. Ich habe jeden Wolfskrieger gerufen, der in diesem Teil Arus zu finden war, und bin ihnen gefolgt, bis sie sich trennten. Dann griffen wir diejenigen an, die Ni’yo mit sich schleppten. Es hat nichts genutzt, er konnte nicht fliehen. Doch für mich war es der erste gute Tag seit fast zwei Jahrzehnten gewesen, denn ich hatte Rache an den Kalesh genommen und wusste nun, dass mein Bruder lebt.“ Sie starrte ihn vorwurfsvoll an.
„Glaubst du also wirklich, ich könnte irgendetwas tun, das Ni’yo schadet?“
„Nein … vergib mir“, murmelte Jivvin aufgewühlt. „Das zwischen uns …“
„… ich wünschte es wäre nicht da!“, fiel sie ihm heftig ins Wort. „Ich wünschte, es könnte sich einfach in Luft auflösen. Aber du weckst etwas in mir, das noch kein Wolf wach rufen konnte.“ Sie fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durch das Haar. „Am liebsten wäre ich dir niemals begegnet.“
„Sag das nicht.“ Jivvin lächelte – er hoffte es zumindest – und zupfte an einer ihrer langen silbernen Strähnen. „Ich habe alle meine Geschwister verloren und vermisse sie sehr. Vor allem meine jüngste Schwester Remoa. Sie war ein Biest, wenn man ihr bloß an den Haaren zog, wurde sie sofort rasend.“
„Und du glaubst, ich könnte ihre Stelle einnehmen?“ Lynea zog die Augenbrauen hoch, wodurch sie Ni’yo so ähnlich sah, dass Jivvin hart schlucken musste. „Nun, du hast zumindest ein wenig Erfahrung mit dieser Aufgabe, soweit ich weiß“, scherzte er tapfer weiter. Er wusste nun, dass Lynea tatsächlich nur eine Freundin für ihn sein konnte. Vielleicht noch eine Schwester, sonst nichts. Ni’yo hielt sein Herz. Er wollte niemand anderen. Nur Ni’yo.
Ein unerwarteter Tritt vors Schienbein ließ ihn zusammenfahren.
„Du hast recht, ich bin vielleicht etwas außer Übung, ansonsten jedoch das vollkommene Muster einer kleinen ekelhaften Schwester.“ Lynea grinste breit, es war mehr eine Grimasse, die den Schmerz in ihrem Blick nicht verbarg. „Nun gut, wir sollten so langsam zu den anderen zurückkehren. Sonst denken die vielleicht noch, du hättest dir schnellen Trost gesucht.“
„Sollen sie doch denken, was sie wollen“, murmelte Jivvin müde, trottete dann aber zurück.
~*~
Sie hatten sich alle auf
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