Die Meister der Am'churi (German Edition)
Vater ist ein guter Sippenältester, der stets das Wohl der anderen im Blick hat. Nur manchmal wünschte ich, er würde sich etwas mehr um das Wohl aller sorgen … Er ist in einer Welt aufgewachsen, in der es keine Menschen gab, keine Götter außer Kalesh, einer Welt, in der wir Elfen dort lebten, wo nun ihr Sterblichen haust. Das gilt für den größten Teil meines Volkes, ich gehöre zu den Wenigen, die in den Schatten geboren wurden.“
„Warum? Ohne Kinder könnt ihr doch nicht fortbestehen, gleichgültig, wie langlebig ihr seid“, fragte Ni’yo, seltsam berührt von Norims Worten.
„Die Alten warten auf den Tag, an dem wir wahrhaftig zurückkehren dürfen, an dem die Sonne uns nicht schwächt, sondern wärmt, an dem die Schönheit Arus nicht mehr nur in unseren Erinnerungen Bestand hat. Sie wollen keine Kinder, die die Dunkelheit als wahrhaftig und gut annehmen. Ich wurde gezeugt, um den Platz meines Vaters einnehmen zu können, sollte er fallen, bevor das Ziel erreicht ist.“
„Du bist nicht wie er.“ Ni’yo wusste nicht, wie er deutlicher ausdrücken könnte, was er wissen wollte, wie er fragen sollte, ob Norim sich als fehlerhaft, als anders empfand und dafür von seinem Volk ausgegrenzt wurde. Es überraschte ihn, als ein warmes Lächeln die schönen Gesichtszüge des Elfen erhellte.
„Genau dafür liebt er mich“, sagte er. „Was ihn vermutlich selbst am meisten verwirrt, denn eigentlich hasst er alles, was Veränderung bedeutet. Mein Vater weiß, dass er die Elfen nicht mehr zurück in das Licht führen kann, sollte es jemals soweit kommen. Aru ist nicht mehr wie vor fünftausend Jahren. Er liebt mich dafür, dass ich unserem Volk Hoffnung auf eine Zukunft geben kann.“
Norim streckte die Hand aus, und diesmal ergriff Ni’yo sie, ohne zu zögern.
„Nicht erschrecken, dir wird nichts geschehen“, warnte der Elf ihn vor, bevor er ihn fest umarmte, die Stofflichkeit seines Körpers aufgab und zu einem lebendigen Schatten wurde – und Ni’yo mit ihm. Es war beängstigend, jegliches Gefühl zu verlieren und sich ohne eigene Kontrolle durch Zwielicht und Finsternis zu bewegen. Doch es dauerte nur einen langen Moment, dann gab Norim ihn frei. Sie befanden sich tief unter der Erde, in einem Felsengang, der von Fackeln erhellt wurde. Hätte Ni’yo nicht gewusst, dass sich über seinem Kopf ein Wald befand, hätte er auch geglaubt, in einem Tempel oder Palast gelandet zu sein. Wände und Boden des Ganges waren glatt poliert und mit Mosaiken und prächtigen Gemälden geschmückt.
„Willkommen in Almular“, sagte Norim stolz und neigte leicht den Kopf, „der Hauptstadt der Schattenelfen. Du bist der erste Sterbliche, der nicht als Gefangener, sondern freier Gast in unserem Reich wandeln darf. Ich bringe dich jetzt zu meinem Vater. Er will dir noch einiges mitteilen, bevor du deine Aufgabe antreten wirst.“
Norim musste an sich halten, nicht zu lächeln, als er Ni’yo beobachtete. Er hatte in den letzten Tagen erlebt, wie stark sich der scheue junge Mann beherrschen konnte, weder auf offenen Spott noch Ablehnung irgendeine erkennbare Reaktion gezeigt hatte. Dass dieser Mensch nun mit staunenden Augen und offenem Mund durch Almulars Gänge und Hallen schritt und beim Anblick des großen Lichtbrunnens sogar mit einem lauten Ausruf stehen blieb – ein Springbrunnen, dessen Wasserfontänen in regelmäßig veränderlichen Mustern Lichtstrahlen brachen, die in einem genau berechneten Zusammenspiel von Feuer, Spiegeln und Kristallen aufleuchteten und dadurch die gesamte Halle in ein Meer von tanzenden Regenbögen verwandelte – das machte Norim glücklich. Almular war voll von solchen Wundern, von filigranen Meisterwerken jeglicher Kunst, von Gemälden, Statuen, Bauwerken, atemberaubenden Spielen mit Licht und Klängen. Jahrtausendelang hatte sein Volk an der Vervollkommnung dieser unterirdischen Welt gearbeitet. Doch was nutzte all diese Schönheit, wenn sie immer nur von denselben Augen betrachtet wurde? Was nutzte es, eine neue Welt zu erschaffen, die zwar schöner, sicherer, in jeder Hinsicht vollkommener war als die Alte, wenn all diese Perfektion nicht half, die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat zu vergessen?
„Was ist das?“, fragte Ni’yo, als sie die Halle der Erinnerung betraten, wo die Geschichte der Elfen mit Miniaturen aus Edelsteinen und Kristallen nachgestellt war.
„Du musst rechts beginnen“, sagte Norim und winkte seinen Gast zur ersten Kugel aus
Weitere Kostenlose Bücher