Die Meister der Am'churi (German Edition)
schaffen es nicht, mich so hartnäckig aus den tieferen Schichten ihres Bewusstseins fernzuhalten. Aber gleichgültig, wie stark du bist, du wirst mir unterliegen. Ich brauche dich, du wirst meine Waffe sein.“
„Was meinst du? Eine Waffe, wofür?“
„Um Rache an Am’chur zunehmen, der dich erwählte. Rache an Ilanrin, der uns betrogen hat – oh, davon weiß du ja noch gar nichts, nicht wahr? Ich habe gesehen, was Ilanrins Sohn dir erzählt hat, der wohl selbst belogen wurde. Nun, willst du die Wahrheit hören?“
Ni’yo wartete schweigend, trotz des immensen geistigen Drucks, den Charur auf ihn ausübte. Schließlich gab der Drache nach.
„Ja, wir Drachen hatten lange Zeit hoch in den Bergen gelebt, auf ganz Aru verteilt. Es war heißer in jenen Tagen, Schnee und Eis waren uns fremd, und wir mussten niemals weit fliegen, um Beute zu finden. Dann kühlte die Welt ab, warum weiß ich nicht. Es gab plötzlich Winter und Schnee, der uns immer tiefer in die Täler trieb, aus denen wir uns bislang ferngehalten hatten. Um nicht zu verhungern, mussten wir den Beutetieren folgen und gerieten irgendwann in die Gebiete der Elfen. Wir hatten sie als jüngere Geschwister angesehen, erschaffen von Himmelsmächten, damit sich unsere Kräfte ergänzen konnten, um Kaleshs Leib zu ehren. Aber wir mussten erleben, dass Kalesh die Elfen bevorzugte, obwohl sie von einer fremden Göttin stammen und nicht wie wir sind. Obwohl wir die wahren Kinder Kaleshs sind! Er lehrte sie zahlreiche Rituale, mit denen sie die Kräfte des Himmels und der Erde, des Wassers und der Luft binden und gebrauchen konnten. Unter anderem auch, wie sie das Wesen oder die Seele einer beliebigen Kreatur in ein ungeborenes Kind übertragen konnten.
Viele von uns neideten den Elfen schon da, was sie besaßen. Doch Ilanrin war uns ein Freund und er war zunächst bereit, uns mit Nahrung zu helfen.“
„Und was geschah, dass ihr den Frieden gebrochen habt?“, fragte Ni’yo angespannt.
„Sie überfielen uns nachts, wenn Dunkelheit und Kälte unsere Körper verlangsamte. Nicht viel, wir sind keine Schlangen, aber es ist die Sonne, die uns Kraft gibt. Die Elfen gaben uns nichts mehr von dem Wild, das wir in den dichten Wäldern nicht selbst jagen konnten. Sie töteten vor allem Weibchen und Jungdrachen und zerstörten unsere Gelege. Also lernten wir, uns nachts vor ihnen zu verbergen, und begannen zurückzuschlagen. Wir fielen über einige ihrer Dörfer her, nahmen uns, was wir zum Überleben brauchten. Ich fragte Ilanrin, ob Frieden nun wieder möglich wäre, doch er sprach nur von Rache, und dass wir kein Recht gehabt hätten uns zur Wehr zu setzen.“ Bilder fluteten durch Ni’yos Bewusstsein, mit denen er dem Weg der Erinnerungen folgen konnte, die Charur ihn sehen ließ. Er sah Heerscharen von Drachen im Kampf gegen Elfen, die sich zwischen Bäumen und Felsspalten verbargen, bis sie einen einzelnen Drachen aus dem Hinterhalt angreifen konnten. Diese Elfen sahen jedoch völlig anders aus, als er es kannte: Ihre Haut schimmerte wie poliertes Elfenbein, und die meisten von ihnen besaßen helle Haare und Augen.
„Die Elfen gefielen sich als Jäger der Nacht und nutzten Rituale ihres Gottes, um auch äußerlich mit den Schatten zu verschmelzen. Ilanrin gehört mit seinen weißen Haaren zu den wenigen, die sich absichtlich ein Mal ihres alten Erscheinungsbildes belassen haben.“
Ni’yo beobachtete staunend, wie sich die Haut der Elfen verdunkelte, bis sie tatsächlich nicht mehr von Schatten zu unterscheiden waren – so, wie sie heute noch aussahen.
„Zur gleichen Zeit begannen sie, ihre unterirdischen Städte zu bauen. Das gleiche Ritual, das sie zu vollkommenen Geschöpfen der Nacht machte, trieb sie aus der Sonne fort. Sie mögen es nicht, bei Tageslicht zu reisen, es schwächt sie zu sehr, wie du sicherlich weißt. Gewiss, sie brauchten auch Schutz vor uns und ich glaube Ilanrin, dass er und sein Volk die Sehnsucht nach der Oberwelt niemals verloren haben. Doch es war ihre Entscheidung, ihr Schicksal so zu wenden. Kalesh hat lediglich vollendet, was sie begannen.“
Nachdenklich nickte Ni’yo vor sich hin. Jetzt, wo er beide Seiten kannte, ahnte er, wie die Wirklichkeit ausgesehen haben musste: dass beide Völker Opfer und Täter zugleich waren.
„Wie endete es?“, fragte er.
„Nach vielen Jahren des Krieges bat Ilanrin um Frieden. Er sagte, er wüsste einen Ort, an dem wir Drachen leben könnten, warm und geschützt, und niemals
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