Die Meister der Am'churi (German Edition)
„Komm her, Ni’yo, ich zeige dir deinen Gott!“ Charur packte ihn und flog mit wenigen Flügelschlägen quer durch die Höhle. Vor einer Felswand von gewaltigen Ausmaßen – es mussten mehrere Meilen in jede Richtung sein – ging er nieder. Der Boden und jede verfügbare Nische, soweit Ni’yo sehen konnte, waren mit Drachenstatuen besetzt. Sie sahen lebensecht aus, als hätte ein höchst begabter Künstler sie aus dem Gestein herausgearbeitet. Doch Ni’yo spürte die Drachenpräsenz, die sie umgab. Fasziniert schritt er an ihnen entlang, berührte zögerlich die riesigen Körper, die einst lebendig waren.
„Das dort ist Muria!“, sagte Charur, und deutete mit einer Flügelspitze auf ein Drachenweibchen. Sie war schmaler als Charur, aber die Ähnlichkeit war unverkennbar. Ni’yo blickte sich nun gezielt nach weiteren Drachen um, die diese Ähnlichkeit aufwiesen, und fand sie schnell. „Die Nauritenzwillinge!“, rief er vor den Statuen zweier Drachenweibchen, die sich tatsächlich bis auf die letzte Schuppe glichen.
„Ja. Sie sind aus einem einzigen Ei geschlüpft.“ Charur schien gegen diese beiden keinen Groll zu hegen, er betrachtete sie ruhig, im Gegensatz zu der Aggression, die zuvor bei Muria zu spüren gewesen war. Das änderte sich schlagartig, als Ni’yo zu einer Dreiergruppe trat, zwei Männchen und ein Weibchen.
„Balur, mein Gelegebruder. Wir sind aus demselben Vulkan geschlüpft. Dimata, meine Gefährtin und Am’chur, mein bester Freund.“ Hasserfüllt starrte er sie an, ließ dabei ruhelos seinen Schweif auf den Boden krachen. „Ich könnte ihre Statuen zerstören, dann wäre es ihnen unmöglich, hier auf Aru einzugreifen. Aber das kann ich nicht. Wie wütend ich auch bin, dass all jene, die ich liebte, denen ich vertraute, mich verlassen haben, ich verstehe sie viel zu gut. Am’chur hätte niemals tun können, wozu ich gezwungen war.“ Er schnellte herum, Ni’yo gelang es im letzten Moment, ihm auszuweichen, bevor er von dem Schweif erschlagen werden konnte. „Mein Volk kam durch das Tal. Als der Hunger zu stark wurde und es nur einen Ausweg für uns gab, ist Am’chur gegangen, und jeder der machtvoll genug dazu war, folgte seinem Beispiel. Etwa dreihundert, alles in allem. Die Elfen erfuhren rasch davon, eine solche Vielzahl neuer Götter ist nicht zu verschweigen. Sie dachten, dass sich unsere Anzahl etwa halbiert haben müsste. Dementsprechend schickten sie fortan die Hälfte an Nahrung wie zuvor. Also mussten wir unsere Anzahl verringern. Wir haben es im Kampf entschieden. Immer zwei, die ungefähr gleich stark waren, sind gegeneinander angetreten. Der Verlierer musste sterben – und wir hatten wieder ein wenig Nahrung.“ Starr vor Entsetzen blickte Ni’yo sich um, versuchte abzuschätzen, wie viele Flügelpaare und funkelnde Augen er bisher gesehen hatte.
„Es sind noch etwa fünftausend, Ni’yo. Und sie dürfen am Leben bleiben.“
„Und trotzdem sind es das zu viele“, flüsterte Ni’yo. Ihn erfasste tiefes Mitleid für dieses Volk, intelligente, fühlende Geschöpfe, die so sehr erniedrigt worden waren.
„Wir haben zahlreiche Weibchen, die alle vier Monate Eier legen und brüten können“, sagte Charur. „Die Jungen dürfen etwa ein halbes Jahr lang wachsen.“ Ni’yo spürte den Angriff kommen und wich aus, als Charur nach ihm griff. Er rollte sich herum, entkam den Pranken und dem Schweif, die ihn nacheinander bedrohten. „Du wirst besser, Ni’yo. Das ist gut. Ich mag es, herausgefordert zu werden, das letzte Mal ist viel zu lang her.“ Er schnaubte verächtlich. „Das war, als Am’chur und ich die Vorherrschaft auskämpften. Er hat verloren. Aus diesem Grund sind wir, die stolzesten Geschöpfe unter der Sonne, in ewiger Dunkelheit gefangen und dazu verdammt, unsere eigenen Jungen zu fressen! Mein Volk hat seine Seele verloren, Ni’yo. Komm mit, ich zeige dir, was sie geworden sind!“
Diesmal ließ Ni’yo zu, dass er gepackt und mitgenommen wurde. Auf einem hoch gelegenen Felsvorsprung setzte Charur ihn nieder. Man konnte hier weit in die Höhle hineinsehen, zahlreiche Drachen befanden sich in der Luft. Er erschauderte bei dem Gedanken, wie sie mit ihm gespielt hatten …
Ni’yo brauchte eine Weile, bis er herausfand, dass etwa ein halbes Dutzend Drachenweibchen von der dreifachen Anzahl Männchen gejagt wurde. Sie konnten nicht entkommen. Er wandte sich ab, als eines der Weibchen unterlag, er wollte nicht sehen, was nun folgen
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