Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Meisterin der schwarzen Kunst

Die Meisterin der schwarzen Kunst

Titel: Die Meisterin der schwarzen Kunst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
Vom Netzwerk:
Zeichenbrett versucht, weil Anna über die Tinte an ihren Fingern gespottet hatte. In dieser Nacht aber hatte sie einen regelrechten Drang verspürt, zur Feder zu greifen. Sie hatte ein Bild vor Augen gehabt, ein Bild, das immer deutlicher geworden war, ja, es war ihr so vorgekommen, als hätte eine leise Stimme ihr eingeflüstert, wie das Titelblatt der Gazette aussehen sollte. Sie hatte so lange gezeichnet, bis die Stimme geschwiegen und der Schlaf sie übermannt hatte. Mit dem Ergebnis war sie zufrieden. Auf dem Blatt war ein hübscher Spiegelrahmen zu sehen, in dessen Mitte der Name der Gazette geschrieben stand: Relation . Die Schrift wurde linker Hand von einem geharnischten Boten mit Federhelm, rechter Hand von einem kräftigen Knaben eingerahmt, der eine Steinschleuder schwang. Die Figuren standen auf verzierten Sockeln, im Hintergrund deuteten Säulen ein Haus an, das für Henrika den Tempel der Wahrheit bedeutete. Der behelmte Bote war dafür verantwortlich, Nachrichten zu liefern, während der Knabe dafür stritt, Lügen und Übertreibungen abzuwehren. Drei wohlgenährte, verspielte Knaben tummelten sich im unteren Teil der Abbildung. Sie trugen weder Rüstung noch Helm, sondern wirkten in ihrer Nacktheit unschuldig wie Engel. Im Gegensatz zu dem Mann mit der Schleuder waren sie zu klein und zu schwach, um den Wahrheitstempel mit Waffengewalt oder ausgefeilter Redekunst zu verteidigen. Doch eine Waffe besaßen auch die drei Knaben, vielleicht sogar die wirkungsvollste, die auf der Zeichnung zu finden war: Der Ausdruck auf ihren Gesichtern machte jeden, der ihn bemerkte, nachdenklich, denn er verhieß Zweifel.
    «Ein merkwürdiges Bild», fand Emma, die eine Weile schweigend stehen geblieben war. «Wie gesagt, es ist gut gezeichnet, aber die Figuren darauf könnten mich das Gruseln lehren. Ich möchte so etwas nicht in meinem Haus haben, verstanden? Schaff es fort, sonst landet es doch noch im Herdfeuer!»
    Henrika rollte das Papier zusammen und lief dann in ihre Schlafkammer, um eine Schnur sowie ein Stück Leder zum Schutz des Papiers zu suchen. Emma hatte recht. Ihr Haus war nicht der geeignete Aufbewahrungsort für das Titelblatt der Gazette. Sie musste dafür sorgen, dass Carolus ihr Werk so schnell wie möglich zu Gesicht bekam. Seine Leidenschaft war wie ein loderndes Feuer, er würde sich nicht vor den Figuren fürchten, die sie entworfen hatte.
    «Du kannst doch bei diesem garstigen Wetter nicht ohne Frühstück aus dem Haus», schimpfte Emma, als sie die Tür zum Flur öffnete.
    Ich muss, dachte Henrika und machte sich auf den Weg.

13. Kapitel
    Die ersten Frühlingstage blieben verregnet, und es war so dunkel, dass in den Häusern schon mittags die Öllampen brannten.
    Ein kalter Windstoß wirbelte Strohhalme und Blätter über das Pflaster, als sich vor der Kirche von St. Peter eine Schar vermummter Reiter in den Sattel schwang. Es waren sechs Männer. Fast alle waren jung, von kräftiger Statur und gelenkig, doch ihre Gesichter zeigten Anzeichen früher Reife.
    Ungeduldig warteten die Männer, bis die Glocken der Turmuhr das Zeichen zum Öffnen der Stadttore gaben, dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Würdevoll ritten die Männer durch die Straßen. Sie folgten ein Stück dem Burggraben, durchquerten die Gasse der Drechsler, der Bürstenbinder und Korbflechter, bevor sie auf das mit Fahnen geschmückte Kronenburgertor zuhielten. Während man von den Gesichtern der Reiter unschwer Vorfreude ablesen konnte, blieben die Mienen derer, die sie zu Fuß zum Stadttor begleiteten, ernst. Manch einer Frau standen Tränen in den Augen, als sie den Männern zum Abschied zuwinkte.
    Die feierliche Prozession wurde von dunkel gekleideten Herren angeführt, die alle zur Zunft der Buchbinder und Drucker gehörten. Sie hatten ihre Hüte tief in die Stirn gezogen und lenkten ihre Pferde mit ausdruckslosen Gesichtern an den Häusern und Mauern ihrer Vaterstadt vorbei.
    Carolus blickte zum grau verhangenen Himmel empor. Seine Hand krampfte sich um den Zügel des Pferdes, denn er war kein geübter Reiter und fühlte sich im Sattel stets ein wenig unbehaglich. So hatte er auch Mühe, seinen Zunftbrüdern zu folgen. Es gelang ihm nicht, seine Aufregung zu verbergen. Er war verantwortlich für den Zug. Er hatte die Männer ausgewählt, die nun die Stadt verlassen sollten. Die Genossen der Buchbinderzunft standen seinen Plänen gleichgültig gegenüber. Sie fröstelten und wünschten sich nach Hause oder in

Weitere Kostenlose Bücher