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Die Meisterin der schwarzen Kunst

Die Meisterin der schwarzen Kunst

Titel: Die Meisterin der schwarzen Kunst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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ihre Unterkünfte. Niemand stellte Fragen, kaum einer kannte den Namen seines Nachbarn. Erst nach Einbruch der Dunkelheit erwachte die Gegend an den Stadtmauern zum Leben. Dann wiesen Laternen aus rotem Glas den Besuchern den Weg zu den Dirnenhäusern, die in dieser Gasse ebenso zu finden waren wie das Haus des städtischen Henkers.
    David wartete noch einen Moment, dann sprang er über die Mauer. Henrika tat es ihm gleich. Ein Garten lag vor ihnen, der bis hinunter zu einem Seitenarm der Breusch reichte. Henrika erblickte ein Grüppchen von etwa fünf Wäscherinnen, die mit Feuereifer auf Wäschestücke eindroschen.
    Während sie sich der Breusch näherten, setzte David ein Lächeln auf und griff nach Henrikas Hand. Ungestüm zog er sie mit sich zu einem Anlegesteg, hinter dem ein kleiner Kahn im Wasser auf- und abschaukelte.
    «Was soll das?», fragte Henrika. «Wo sind wir hier?»
    «Die Boote werden oft von Liebespaaren entführt, die sich ein paar nette Stunden auf dem Kanal machen wollen», klärte David sie auf. Er wandte den Kopf zu den Wäscherinnen, die kichernd miteinander flüsterten.
    «Siehst du die Bäume am Uferweg?» Er wies auf eine Reihe hochgewachsener Weiden, die so dicht beieinanderstanden, dass ihre Zweige die Wasseroberfläche berührten. Ein Boot, das sich nahe am Ufer hielt und zwischen dem Laub vorwärtsbewegte, konnte von der Böschung aus kaum gesehen werden.
    «Der Bursche, der heute das Steinstrassertor bewacht, ist Mitglied unserer Zunft und brennt darauf, eines Tages selbst für Meister Carolus Kurierdienste zu verrichten. Er wird keine Fragen stellen, wenn wir die Stadt verlassen. Und, was noch wichtiger ist, er wird sich nicht an uns erinnern, falls man ihm Fragen stellt. Dafür habe ich gesorgt.»
    Eher Jeremias Zorns Geldbörse, dachte Henrika, doch sie hütete sich, es auszusprechen. Ihr war nicht wohl dabei, sich noch einmal auf Gedeih und Verderb dem Ratsherrn anzuvertrauen, schließlich hatte er sie schon einmal hinters Licht geführt und ihr eine fürchterliche Woche beschert. Aber wenigstens hatte er sie nicht öffentlich angeklagt. Vermutlich hielt er es für besser, sie ohne weiteres Aufsehen aus Straßburg zu verbannen.
    «Und wohin soll ich nun gebracht werden?», fragte Henrika, nachdem ihr David ins Boot geholfen hatte. Sie stieß mit dem Fuß gegen ein Bündel und entdeckte daneben einen Wanderstab. Es war Hahns Stab. David musste bei Ludwig und Emma gewesen sein, um ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen. Henrika hätte zu gern gewusst, was er den beiden Alten über ihre plötzliche Abreise erzählt hatte, aber statt ihn zu fragen, warf sie einen Blick auf die wenigen Dinge, die ihr geblieben waren. Sie fand Barthels Tabakspfeife. Wenigstens die hatte man ihr gelassen.
    Grimmig schob Henrika das Bündel unter das Brett, das ihr als Sitzbank diente.
    «Ich gehe davon aus, dass ich Meister Carolus und die Werkstatt nicht noch einmal wiedersehen darf?»
    Sie musste ihre Frage zweimal wiederholen, denn das plötzlich einsetzende Geläut der Münsterglocken übertönte ihre Stimme. Vielleicht wollte David sie aber auch nicht hören. Schweigend ruderte er durch den sich windenden Kanal, bis der Kahn das Alte Zollhaus, eines der städtischen Lager für Wolle, Seide und Tuch, passiert hatte. Schließlich blickte er auf.
    «Ratsherr Zorn hat mich gebeten, dich nach Flandern zu bringen. Zu einem Mann, dessen Namen du aus einigen Briefen kennst. Er ist der Meinung, dass er dir einiges erklären und dich auch vor den Nachstellungen dieser Anna beschützen kann.»
    Henrika nickte langsam. Sie hatte schon seit langem geahnt, dass ihr Weg sie eines Tages nach Flandern führen würde. Plötzlich verspürte sie eine tiefe Gewissheit, dass nicht nur Barthel, sondern auch ihre Mutter, ja, vielleicht sogar sie selbst, in den Niederlanden geboren worden waren.

    Es war Abend. Henrika preschte auf einem braunen Rappen über einen Wassergraben und genoss den Wind, der durch ihr langes Haar fuhr. Zum ersten Mal im Leben glaubte sie, richtig atmen zu können, und es war ein herrliches Gefühl. Von fern hörte sie Davids Rufe. Er mahnte sie, nicht zu wild daherzugaloppieren, doch sie verlangsamte ihr Tempo nicht. Eine Wiese mit blühendem rotem Klatschmohn flog an ihr vorüber.
    Sie legte den Kopf in den Nacken und jauchzte vor Freude. Ihr einziger Kummer war, dass es bereits dämmerte und sie bald anhalten würden. Die Eindrücke überfluteten ihre Sinne, aber oben, auf dem Rücken ihres

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