Die Meisterin der schwarzen Kunst
beschäftigen; vielleicht durfte sie es eines Tages ja selbständig führen. Oder Hahn vererbte ihr seine Hutmacherwerkstatt.
Aber warum sagte Hahn kein Wort? Warum starrte er seine Frau an, als sähe er ihr kantiges Gesicht heute zum ersten Mal?
Henrika wartete mit wachsender Verzweiflung. Quälende Augenblicke verstrichen. Als sie bereits geschlagen den Kopf sinken lassen wollte, richtete sich Hahn plötzlich auf.
«Henrika, geh hinaus, ich muss mit deiner …» Mitten im Satz brach er ab. Seine Augen vergrößerten sich. Er öffnete den Mund; seine Zunge quoll hervor, als stecke ihm etwas im Halse.
Agatha kreischte auf, als sie ihren Mann mit ausgestreckten Armen auf sich zutaumeln und dann wortlos zusammenbrechen sah. Sie stürzte zu ihm, ließ sich auf die Knie nieder und bettete Hahns Schädel in ihrem Schoß. Die bläulich verfärbten Lippen des Hutmachers bewegten sich noch ein paar Mal, dann stieß er einen letzten, qualvollen Seufzer aus und verstummte. Sein Kopf fiel auf die Seite.
Henrika stieß scharf die Luft aus. «Wir müssen Hilfe rufen», sagte sie. «Ich laufe rasch zu Tante Elisabeth. Oder besser hinunter zum Fluss? Der Baumeister hat behauptet, dass er die Naturwissenschaften studiert hat. Vielleicht versteht er auch etwas von der Heilkunde.»
«Es ist zu spät, er atmet nicht mehr.» Behutsam schloss Agatha ihrem Mann die Augen, faltete seine Hände über der Brust und sprach ein stilles Gebet. Als sie sich schließlich erhob, blickte sie Henrika aus kalten Augen an. «Ich erwarte, dass du seinen letzten Wunsch respektierst und dich davonmachst!»
«Was?»
«Du hast mich sehr wohl verstanden! Seine letzten Worte galten nicht mir, seiner Frau, sondern dir. Ihm blieb nicht einmal Zeit, sein Gewissen zu erleichtern. Dafür befahl er dir hinauszugehen. Also sieh zu, dass du aus meinem Haus verschwindest!»
Fassungslos wich Henrika zurück, bis der Riegel der schweren Tür sich in ihren Rücken bohrte. Ihr Herz raste, so entsetzt war sie über die Worte ihrer Ziehmutter. Es war zwecklos, mit Agatha zu streiten. Sie war zu aufgeregt, um die letzten Worte ihres Mannes richtig zu deuten. Ein Schluchzen drang aus Henrikas Kehle. Der einzige Mensch, der sie in diesem Haus freundlich behandelt hatte, war nicht mehr am Leben. Henrika biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Dann flüchtete sie aus dem Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, ohne ihre Habseligkeiten mitzunehmen oder sich nach Agatha umzublicken. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, rannte sie durch den peitschenden Regen, stolperte durch Wasserlachen und über Äste, die der Sturmwind von den Bäumen gerissen hatte. Unter ihren Füßen gab der schlammige Boden nach, als versuche er, sie ins Erdreich zu ziehen. Ein Blitz zuckte durch den schwarzen Himmel.
Als sie endlich die Schänke erreichte, war sie bis auf die Haut durchnässt. «Heiliger Jesus», rief Elisabeth erschrocken aus. «Welcher Teufel hat dich geritten, bei diesem Wetter vor die Tür zu gehen? Willst du dir den Tod holen?» Rasch ergriff sie ein Tuch, um es Henrika zu reichen, doch das Mädchen warf sich ihr so ungestüm in die Arme, dass ihr nichts weiter übrig blieb, als ihr begütigend über das klitschnasse Haar zu streichen und sanft auf sie einzureden. Sie musste annehmen, das Unwetter habe sie aus der Fassung gebracht.
Betäubt ließ sich Henrika von Elisabeth durch einen Vorhang führen, der die Schankstube von ihren eigenen Räumen trennte. Die neugierigen Blicke der wenigen Gäste, die bei einem Humpen Schwarzbier auf das Ende des Sturmregens warteten, kümmerten sie nicht. Sie bemerkte auch nicht, wie ein hochgewachsener Mann sich erhob und Anstalten machte, auf sie zuzugehen, von Elisabeth jedoch mit einem energischen Kopfschütteln daran gehindert wurde.
Von Weinkrämpfen geschüttelt, sank Henrika auf das Bett der Wirtin nieder und vergrub ihren Kopf zwischen den Kissen und Decken. Doch es gelang Elisabeth nicht, ihr auch nur ein Wort zu entlocken. Als endlich der Morgen graute, verkündete der Klang der Totenglocke, dass ein Mitglied der Dorfgemeinschaft zu beklagen war.
«Agatha hat wahrhaftig keine Zeit verloren», sagte Elisabeth, als sie gegen Abend ihren Witwenschleier aus der Kleidertruhe holte. «Als ich ihr mein Beileid aussprach, waren die Läden der Hutmacherwerkstatt bereits zugenagelt. Zum Zeichen der häuslichen Trauer hat sie Stroh auf die Gasse vor dem kleinen Hof streuen lassen. So fordert es der Brauch.
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