Die Memoiren des Grafen
Anthony düster. «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man alles bekommt, was man sich wirklich wünscht – vorausgesetzt, dass man den Preis dafür zahlt. Um die Frau zu bekommen, die ich liebe, würde ich – würde ich sogar arbeiten!»
Virginia lachte.
«Ich wurde tatsächlich für einen Beruf erzogen, wissen Sie», fuhr Anthony fort.
«Aber Sie wollten ihn nicht ausüben?»
«So ist es.»
«Warum?»
«Eine Frage des Prinzips.»
«Oh!»
«Sie sind eine sehr ungewöhnliche Frau», erklärte Anthony plötzlich und schaute sie an.
«Warum?»
«Sie stellen keine Fragen.»
«Sie meinen, weil ich mich nicht nach Ihrem Beruf erkundige?»
«Genau.»
Schweigend schritten sie weiter.
«Ich brauche nicht zu fragen, ob Sie mich verstanden haben», unterbrach Anthony das Schweigen. «Sie wissen es, wenn ein Mann Sie liebt. Wahrscheinlich machen Sie sich nicht das Geringste aus mir – aber, bei Gott, ich möchte Sie die Liebe lehren!»
«Glauben Sie, dass es Ihnen gelingt?», fragte Virginia leise.
«Vielleicht nicht, aber der Versuch allein wäre wundervoll.»
«Bedauern Sie es, mich jemals gesehen zu haben?»
«Um Himmels willen, nein! Da leuchtete wieder das rote Signal. Als ich Sie das erste Mal sah, damals in der Pont Street, da wusste ich, dass mir Schweres bevorstand. Ihr Gesicht sagte es mir – nur Ihr Gesicht allein. So viel Zauber liegt darin. Noch nie sah ich eine Frau, die dieses unnennbare Etwas besitzt. Sie werden jedenfalls einen sehr ehrenwerten, reichen Mann heiraten, und ich kehre zu meinem verrufenen Leben zurück. Aber ehe ich gehe, werde ich Sie einmal küssen – ich schwöre es!»
«Bloß nicht jetzt», lächelte Virginia sanft. «Inspektor Battle beobachtet uns nämlich von der Bibliothek aus.»
Anthony sah sie an.
«Sie sind ein kleiner Teufel, Virginia», sagte er völlig ruhig, «aber ein geliebter kleiner Teufel!»
Dann winkte er Battle zu.
«Irgendwelche Verbrecher gefasst heute Morgen?»
«Bis jetzt nicht, Mr Cade.»
Mit einer Leichtigkeit, die man dem schweren Mann gar nicht zugetraut hätte, sprang Battle aus dem Fenster.
«Professor Wynwood ist hier», sagte er flüsternd. «Er ist soeben eingetroffen und dechiffriert jetzt die Briefe. Möchten Sie ihn bei der Arbeit sehen?» Sein Ton war so geheimnisvoll wie der eines Zauberkünstlers, der eine besondere Attraktion ankündigt. Er führte die beiden zum Fenster und hieß sie hineinspähen.
An einem der Tische saß ein kleiner, rothaariger Mann mittleren Alters. Er hatte die Briefe vor sich ausgebreitet und schrieb eifrig auf ein großes Blatt. Beim Schreiben brummte er ärgerlich vor sich hin. Plötzlich blickte er auf.
«Sind Sie das, Battle?», knurrte er. «Was fiel Ihnen eigentlich ein, mich wegen dieser Albernheiten extra herkommen zu lassen? Ein Wickelkind könnte dieses Zeug dechiffrieren. Nennen Sie das einen Code? Es springt doch direkt ins Auge, Menschenskind.»
«Das freut mich sehr, Professor», sagte Battle sanft. «Aber wir sind leider nicht so gescheit wie Sie.»
«Dazu braucht es keine Gescheitheit», schnappte der Professor zurück. «Bloß Übungssache. Brauchen Sie das ganze Gewäsch? Das dauert mir zu lange – erfordert Fleiß und Aufmerksamkeit, aber keine Intelligenz. Ich habe den einen Brief übertragen, der die Adresse von Chimneys trägt, weil Sie behaupteten, er sei wichtig. Den Rest könnte ich nach London mitnehmen und ihn einem meiner Assistenten geben. Ich habe keine Zeit für solche Narreteien.»
«Schon gut, Professor», stimmte Battle zu. «Es tut mir leid, dass wir so kleine Fische sind. Die ganze Eile betraf eigentlich nur diesen einen Brief. Lord Caterham erwartet Sie jedenfalls zum Lunch.»
«Ich lunche nie», knurrte der Professor. «Schlechte Angewohnheit, das viele Essen.»
Er griff nach seinem Mantel, der nachlässig über einen Stuhl geworfen war. Battle ging zum Hauptportal hinüber, und ein paar Minuten später hörten Virginia und Anthony bereits den Anlasser eines Wagens.
Battle kehrte zu ihnen zurück, in der Hand das Blatt Papier, das der Professor ihm ausgehändigt hatte.
«So ist er immer», sagte Battle und meinte damit den abfahrenden Professor. «Immer in Eile – aber ein verdammt kluger Kerl. Nun, hier ist also die Quintessenz des Briefes. Möchten Sie ihn lesen?» Virginia streckte ihre Hand aus, und Anthony las über ihre Schulter. Er erinnerte sich, dass es ein langer Brief gewesen war voller Leidenschaft und Verzweiflung. Der Genius von Professor
Weitere Kostenlose Bücher