Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
Schaden angerichtet, außer daß Sie mich schrecklich verwirrt haben. Wenn Sie sich, Sir, jetzt in das Wartezimmer begeben würden, könnte ich die Konsultation fortsetzen, die gestern ein so abruptes Ende gefunden hat.‹
Ungefähr eine halbe Stunde lang besprach ich mit dem alten Herrn die Symptome, und dann, nachdem ich ihm etwas verschrieben hatte, sah ich ihn am Arm seines Sohnes davongehen.
Ich erwähnte schon, daß Mr. Blessington seinen Spaziergang gewöhnlich um diese Zeit macht. Kurz danach betrat er das Haus und ging nach oben. Einen Augenblick später hörte ich ihn die Treppe herunterpoltern, und dann stürzte er wie von Panik befallen in mein Ordinationszimmer.
›Wer war in meinem Zimmer?‹ rief er.
›Niemand‹, sagte ich.
›Das ist eine Lüge!‹ schrie er. ›Kommen Sie mit nach oben und überzeugen Sie sich.‹
Ich überhörte die Grobheit seiner Ausdrucksweise, denn er schien halb von Sinnen vor Furcht. Als ich mit ihm die Treppe hinaufstieg, deutete er auf einige Fußabdrücke im hellen Teppich.
›Würden Sie sagen wollen, die habe ich hinterlassen?‹ rief er.
Sie waren in der Tat viel zu groß, als daß sie von ihm stammen konnten, und offensichtlich ganz frisch. Sie wissen ja, heute nachmittag hat es heftig geregnet, und nur meine Patienten hatten das Haus betreten. Es mußte wohl so gewesen sein, daß der Mann vom Wartezimmer aus unbekanntem Grund ins Zimmer meines Dauerpatienten hinaufgegangen war, während ich mich mit seinem Vater beschäftigte. Nichts war berührt worden, nichts fehlte, aber es gab die Fußabdrükke, die bewiesen, daß ein Unbefugter dagewesen war.
Mr. Blessington regte sich so sehr auf, wie ich
es nie für möglich gehalten hätte, obwohl natürlich schon zu verstehen war, daß die Angelegenheit einem den Seelenfrieden stören konnte. Er saß in einem Lehnstuhl und weinte wahrhaftig, und es gelang mir kaum, ihn zu zusammenhängendem Sprechen zu bewegen. Der Vorschlag, Sie aufzusuchen, kam von ihm, und ich sah auch sofort, daß er recht hatte, denn der Fall ist gewiß sehr merkwürdig, obgleich Mr. Blessington seine Gewichtigkeit arg überschätzt. Wenn ich Sie in meinem Brougham hinfahren dürfte, könnten Sie ihn wenigstens beruhigen, wenn ich schon nicht darauf hoffe, daß es Ihnen gelingen wird, die Begebenheit zu erklären.«
Sherlock Holmes hatte dem langen Bericht mit einer Aufmerksamkeit zugehört, die mir anzeigte, daß er äußerst interessiert war. Sein Gesicht sah so leidenschaftslos aus wie immer, doch die Lider lagen schwerer auf den Augen, und der Rauch war in dichteren Schwaden von seiner Pfeife emporgestiegen, als hätten sie jede Episode in der seltsamen Geschichte des Doktors unterstreichen sollen. Sowie unser Besucher mit seinen Schilderungen zu Ende war, sprang Holmes wortlos auf, reichte mir meinen Hut, nahm den seinen vom Tisch und folgte Dr. Trevelyan zur Tür. Eine Viertelstunde später wurden wir vorm Haus des Arztes in der Brook Street abgesetzt, einem dieser würdevollen schmucklosen Häuser, die man gleich mit einer Arztpraxis in West End in Verbindung bringt. Ein junger Diener empfing uns, und wir gingen sofort die breite, teppichbelegte Treppe hinauf.
Aber ein seltsamer Zwischenfall ließ uns innehalten: In der ersten Etage erlosch plötzlich das Licht, und aus dem Dunkel drang eine schnarrende, zitternde Stimme.
»Ich habe eine Pistole!« rief sie. »Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß ich schieße, wenn Sie noch einen Schritt näher kommen.«
»Das ist aber nun wirklich übertrieben, Mr. Blessington«, rief Dr. Trevelyan.
»Ah, Sie sind es, Doktor?« sagte die Stimme, und wir hörten einen Seufzer der Erleichterung. »Aber die anderen Gentlemen: Sind sie wirklich, was sie zu sein vorgeben?«
Wir merkten, wie wir aus dem Dunkel lange geprüft wurden.
»Ja, es ist alles in Ordnung«, sagte die Stimme schließlich. »Sie können nach oben kommen. Es tut mir leid, wenn meine Vorsicht Sie belästigt hat.«
Der Gasleuchter auf der Treppe wurde wieder angezündet, und wir erblickten einen sonderbaren Mann, dessen Äußeres wie auch seine Stimme von zerrütteten Nerven zeugte. Er war sehr dick, mußte aber zuzeiten noch dicker gewesen sein, denn die Gesichtshaut hing in lockeren Falten herunter, was ihm das Aussehen eines Bluthundes gab. Er hatte einen kränklichen Teint, und sein dünnes sandfarbenes Haar schien wie durch die innere Bewegung aufgestellt. In
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