Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
auf keinen Fall erfüllte er das, was man sich unter einem russischen Edelmann vorstellt. Von der Erscheinung seines Begleiters war ich viel tiefer beeindruckt. Das war ein großer junger Mann, erstaunlich hübsch, mit einem dunklen, leidenschaftlichen Gesicht und den Gliedmaßen und der Brust eines Herkules. Als sie eintraten, hielt er die Hand unter dem Arm des anderen und geleitete ihn mit einer Behutsamkeit zu einem Stuhl, die man nach seinem Äußeren nie vermutet hätte.
›Entschuldigen Sie, daß wir Sie belästigen, Doktor‹, sagte er leicht lispelnd auf Englisch zu mir. ›Das ist mein Vater, und seine Gesundheit ist für mich von ungeheurer Wichtigkeit.‹
Ich war gerührt von der Fürsorge des Sohnes. ›Möchten Sie vielleicht während der Konsultation zugegen sein?‹ fragte ich.
›Um nichts in der Welt!‹ rief er mit einer Geste des Schreckens. ›Das wäre mir schmerzlicher, als ich erklären kann. Ich bin überzeugt davon, ich würde es nicht überleben, wenn ich meinen Vater in einem seiner fürchterlichen Anfälle sähe. Mein Nervensystem reagiert außerordentlich empfindlich. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich mich im Wartezimmer aufhalten, während Sie meinen Vater untersuchen.‹
Das gestattete ich ihm selbstverständlich, und der junge Mann zog sich zurück. Der Patient und ich kamen dann in ein Gespräch über seinen Fall, und ich machte mir ausführliche Notizen. Er fiel nicht durch Intelligenz auf, und seine Antworten waren oft dunkel, was ich auf seine beschränkte Kenntnis unserer Sprache zurückführte. Plötzlich, während ich schrieb, hörte er überhaupt auf, meine Fragen zu beantworten, und als ich hochsah, erschrak ich, da er kerzengerade vor mir saß und mich leeren, starren Gesichts ansah. Die geheimnisvolle Krankheit hatte ihn wieder gepackt.
Meine erste Empfindung war, wie ich schon sagte, eine Mischung aus Mitleid und Furcht. Die zweite war, gestehe ich, berufliche Befriedigung. Ich notierte mir die Pulsfrequenz und die Temperatur des Patienten, prüfte die Starre seiner Muskeln und seine Reflexe. Ich stellte in seinem Befinden nichts besonders Bemerkenswertes fest, alles paßte zu meinen bisherigen Erfahrungen. In solchen Fällen hatte ich durch Inhalation von Amylnitrit zuvor schon gute Ergebnisse erzielt, und das Vorkommnis war für mich eine einmalige Gelegenheit, die Wirkung des Medikaments wieder zu erproben. Die Flasche war unten in meinem Laboratorium, und so ließ ich den Patienten auf dem Stuhl sitzen und eilte hinunter, um sie zu holen. Es dauerte ein Weilchen, bis ich sie gefunden hatte – vielleicht fünf Minuten –, dann kehrte ich zurück. Stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als ich das Zimmer leer fand; der Patient war gegangen.
Natürlich lief ich sofort ins Wartezimmer. Der Sohn war auch verschwunden. Die Haustür war zugezogen, aber nicht verschlossen. Der Diener, der die Patienten einläßt, ist noch neu in meinen Diensten und ein bißchen langsam. Er wartet im Erdgeschoß und kommt, um die Patienten hinauszubegleiten, wenn ich im Ordinationszimmer klingele. Diesmal hatte er nichts gehört, und die Sache blieb für mich völlig dunkel. Kurz danach kam Mr. Blessington von seinem kleinen Spaziergang zurück, aber ich erwähnte ihm gegenüber die Angelegenheit nicht, denn, um die Wahrheit zu sagen, ich hatte es in der letzten Zeit überhaupt so gehalten, daß ich sowenig wie möglich mit ihm. zu reden brauchte.
Nun, ich dachte nicht, daß ich den Russen und seinen Sohn jemals wiedersehen würde, und Sie können sich wohl meine Überraschung vorstellen, als die beiden heute abend um dieselbe Zeit in mein Ordinationszimmer spazierten, genau wie gestern.
›Ich muß mich vielmals für mein plötzliches Verschwinden entschuldigen, Herr Doktor‹, sagte mein Patient.
›Ich gestehe, ich war sehr überrascht‹, entgegnete ich.
›Die Sache liegt so‹, fuhr er fort, ›daß mein Bewußtsein dann immer getrübt ist und ich das Vorhergegangene nicht mehr weiß, wenn ich mich von diesen Anfällen erhole. Ich kam in einem fremden Raum, wie mir schien, wieder zu mir und ging, da Sie weg waren, ziemlich benommen auf die Straße hinaus.‹
›Und ich‹, sagte der Sohn, ›dachte natürlich, die Konsultation sei zu Ende, als ich meinen Vater an der Tür des Wartezimmers vorbeigehen sah. Erst als wir zu Hause ankamen, begriff ich, was wirklich mit ihm los war.‹
›Nun‹, sagte ich und lachte, ›es wurde ja kein
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